: Sarajevo wartet auf den Tod
Scharfschützen in den Bergen, Mafiosi in der Stadt, und als humanitäre Hilfe schicken die Amerikaner Tabasco-Fläschchen/ Ohne Heizöl, Strom und Kohlen vor einem kalten Winter ■ Von Dietrich Willier
Der Fußboden des zerbombten Kinos ist übersät mit Teilen von Autowracks, Granatsplittern und Hülsen in allen Größen, daneben Haufen von Plastikmüll und leere Konserven. In einer Ecke liegen zersplitterte Balken, aufgerissene Blechplatten, ein verbogenes Fahrrad und ein Berg von zerbrochenem Fensterglas. Ein paar junge Männer und Frauen sitzen in den verstaubten Kinosesseln und diskutieren, andere versuchen, Wrackstücke, Kronenkorken, leere Fischdosen und ein geschmolzenes Telefon auf die Fassade einer rohgezimmerten Hütte zu nageln. Materialkunst im Krieg? „Jedenfalls ist es ein Teil unserer zerstörten Kultur, den wir in den Straßen Sarajevos gefunden haben“, sagt Suada Kapic und führt uns zwischen Fundstücken aus einem ausgebrannten Museum, durchschossenen Schaufensterpuppen und Küchenmöbeln durch ihr Lager voll Kriegsschrott. Wir ducken uns hinter die leeren Fensterhöhlen des ehemaligen Kulturzentrums in Sarajevos Altstadtbezirk Bjelave. Seit die Gruppe aus jungen Architekten, Schauspielern und Musikern um die ehemalige Erfolgsregisseurin vor ein paar Wochen begonnen hatte, hierherzuschleppen, was von der bosnischen Metropole so übrigbleibt, um eine makabre Performance über das Sterben der Stadt vorzubereiten, liegt das Gebäude im Schußfeld serbischer Scharfschützen.
Nicht mehr lang, glaubt Suada. Frankreich hat die Transportkosten für ihr Objekt nach Paris übernommen: „Und die UNO ist schließlich dem kulturellen Austausch verpflichtet und wird uns mitsamt unserem bosnischen Haus dort hinfliegen müssen.“
Alltäglichere Hoffnungen, auf eine Lockerung des Embargos für Bosnien-Herzegowina etwa, auf Waffenlieferungen oder gar eine europäische Militärintervention hat man in Sarajevo dagegen schon lange begraben. „Wie lange will eure zivilisierte, westliche Welt uns eigentlich noch mit ihrem Reis und den Makkaroni zum Kanonenfutter für die serbischen Granaten mästen?“ fragt Suada und zerreißt zornig eins der herumliegenden amerikanischen Care-Pakete. Ein paar Kaugummis, ein Beutelchen mit hygienisch verschweißtem Apfelgelee, Crackers und ein winziges Fläschchen Tabasco fallen heraus. „Mit dem Zeug“, lacht sie bitter, „werden wir den kommenden Winter nicht einmal dann überleben, wenn der Krieg vorher zu Ende geht.“ Mindestens 3.000 Frauen, Männer und Kinder, Zivilisten allesamt, sind bisher allein in Sarajevo im Feuer der serbischen Granaten und Scharfschützen umgekommen. Jeder zehnte der in der Stadt eingeschlossenen 330.000 Menschen ist schwer verletzt oder verkrüppelt. Wer von Suadas Freunden nicht abgehauen ist, kämpft in den Reihen der bosnischen Armee oder liegt unter einem der zahllosen, frischen Erdhügel im Park des „Löwenfriedhofes“. Gestorben wird überall in der Stadt. Draußen, vor dem Kulturzentrum sitzt Milic Vukarcinovic, einst einer der bekanntesten jugoslawischen Rockmusiker, und schneidet Tabakblätter zu dünnen Streifen. Zigaretten gibt es in Sarajevo nur noch zu Traumpreisen und gegen harte Devisen. Milics Mutter hatte den Knaster, zur Bekämpfung von Ungeziefer, noch in ihrem Wäscheschrank hängen. Neben Milic spielen ein paar Kinder und tauschen gesammelte Granatsplitter wie früher ihre Briefmarkenkollektionen.
Es ist Nachmittag. Dragan, unser Begleiter, drängt zum Aufbruch. Wir müssen zurück. Das Haus unserer Gastgeber liegt, eine Stunde Fußmarsch entfernt, auf der anderen Seite des Miljacka- Tals im Altstadtbezirk Bistrik. Busse und Straßenbahnen wurden schon zu Beginn des serbischen Angriffs auf Sarajevo zerstört, und ihre ausgebrannten Wracks zum Schutz der Passanten in die Einschußschneisen der Scharfschützen gezerrt. „Bleibt am Leben“, ruft Suada uns nach, „wir treffen uns an der Seine.“
Bleibt am Leben? Natürlich wollen wir das! Wie alle die hektischen, bleichen Menschen um uns, wenn sie wie gehetztes Wild auf der Suche nach etwas Eßbarem durch ihre Stadt rennen. Aber wie macht man es hier, am Leben zu bleiben? In einer Stadt, die, eingeschlossen zwischen hohen, zerklüfteten Bergen und den Geschützen, Mörsergranaten und Raketen der unsichtbaren serbischen Armee, in der Falle sitzt. Wie macht man das, überleben, wenn man nur noch sicher sein kann, daß die Geschosse pausenlos einschlagen, jede Stunde, jede Minute, aber niemand weiß wo und wer die nächsten Opfer sein werden?
Der Terror hat die Nerven der Menschen in Sarajevo bloßgelegt. Nicht nur am Tag. Auch in der Nacht. Wenn man die Ziele der glühenden Bomben nicht einmal ahnen kann. Wenn sich die Detonationen der schweren Kaliber in einem vielfachen Echo in den Bergen brechen, zwischen den kläffenden Salven der Maschinengewehre. Jahrhunderte haben sich diese Berge wie beschützend um die Stadt getürmt, jetzt sind sie zum Alptraum geworden.
Dragan, unser Führer, ist schon losgerannt. Die lange Treppe hinunter ins Stadtzentrum ist ein beliebtes Ziel der Scharfschützen. Hakenschlagend wie Hasen laufen wir ihm hinterher, ducken uns hinter Mauern, Büschen und Bäumen. Wenn wir die Berge nicht sehen, dann tauchen wir auch nicht im Fadenkreuz unserer Angreifer auf. Zwischen den Moscheen, den katholischen und orthodoxen Kirchen im historischen Basarviertel Bascarsija schlagen Granaten ein. Braune, dreckige Staubwolken steigen auf, und die schwarzen Rauchsäulen brennender Autos.
Dragan kennt die geschützteren Schleichwege durch Häuser und Hinterhöfe, kennt die Nischen, in denen man vor dem nächsten Spurt noch einmal verschnaufen kann. Und er kennt die vielen Menschen in der Stadt, die uns immer wieder zu einem süßen, türkischen Kaffee in ihre fensterlosen Wohnungen bitten. Eine Kostbarkeit, denn Strom gibt es hier schon lange nicht mehr, und die letzten Butangasflaschen sind leer. In Hinterhöfen und den Treppenaufgängen der Häuser haben Frauen aus Steinen und Blechresten notdürftig ihre Kochstellen gebaut. Geheizt wird mit zersägten Holzregalen, überflüssig gewordenen Schrankwänden und dem Abbruchholz ausgebombter Häuser. Unten in der Marschall-Tito-Straße, gleich gegenüber dem schwerlädierten Gebäude der bosnisch-herzegowinischen Regierung, sitzen Männer in den alten Bäumen einer Grünanlage. Erst sind es die trockenen oder abgeschossenen Äste, die sie mit ihren kleinen Handsägen abschneiden. In ein paar Tagen wird nur noch der Stamm übrig sein. Dann kann auch der gefällt werden. Kinder sammeln trockene Zweige und Löwenzahnblätter als Salatersatz.
Es gibt nichts zu kaufen in dieser Stadt. Nicht einmal mehr für die begehrten Dollar und Deutschmark, und schon gar nicht für die Zettel mit aufgedruckten Zahlen, die die bosnische Regierung als Kriegswährung ausgegeben hatte. Selbst auf dem Schwarzmarkt ist außer Einwegfeuerzeugen, Seife, Fähnchen mit dem bosnischen Wappen und getrockneten Blumen nichts mehr zu haben. Fuad, ein Schwarzhändler, den sie in unserer Nachbarschaft spöttisch den „Taschenträger“ nennen, war monatelang zu Fuß durch die heftig umkämpften Siedlungen östlich Sarajevos geschlichen, um dicke Bündel voller Kartoffeln, Paprika und anderes Gemüse in die Stadt zu schmuggeln. Bis vor zwei Wochen war das ein gefährliches, aber einträgliches Geschäft. Dann erschossen bosnische Polizeieinheiten des Kommandanten Jusuf Juka Prazina fünf seiner Kollegen. Aus Konkurrenzgründen, wie Fuad meint. Jetzt sitzt er apathisch vor seinem Haus und trauert den entgangenen Einkünften nach. Der Deal gehört seither ebenso wie der devisenträchtige Handel mit Alkohol und Zigaretten zum Einflußbereich von Sarajevos meistbesungenem Volkshelden Jusuf Juka Prazina. „Juka“ kannte schon vor dem Krieg jedes Kind in der Stadt. Damals war er noch mit seinen Leibwächtern und zwei Kampfhunden durch die Straßen gezogen und hatte öffentlich und ungehindert Schutzgelder abkassiert. Heute bezeichnet man ihn ehrfürchtig als „Robin Hood“ der gebeutelten Stadt. Als einem der ersten war es dem 29jährigen Mafioso gelungen, eine Widerstandstruppe gegen den serbischen Angriff auf Sarajevo zu bewaffnen und auszurüsten. Inzwischen hören die 5.000 Mann starken paramilitärischen Polizeispezialeinheiten auf sein Kommando: Ein Drittel, immerhin, der gesamten bosnischen Armee in der eingeschlossenen Stadt. Daß ein großer Teil von Jukas Kämpfern der ersten Stunde inzwischen als Kriegsgewinnler, Schwarzhändler, Plünderer und Erpresser im Gefängnis von Sarajevo sitzt, tut der öffentlichen Bewunderung für den Volkshelden keinen Abbruch. „Juka war ein Mafioso, ist ein Mafioso und wird ein Mafioso bleiben“, meint Vladimir, ein Beamter aus dem Wirtschaftsministerium.
Es ist kalt und dämmrig geworden, als wir die Bascarsija durchqueren. Im einzigen Café, das in diesem Stadtteil noch für ein paar Stunden am Tag seine Tür offenhält, sind wir mit zwei jungen Wirtschaftswissenschaftlern aus dem bosnischen Innenministerium verabredet. Auf der Straße kommt uns ein großer, junger Mann entgegen, den wir schon am Morgen getroffen haben. Sein strähniges Haar hängt ihm ins Gesicht. Mit wirrem Blick hält er uns ein eingewickeltes Bündel entgegen. Sein totes Kind. Seit Tagen schon trägt er es durch die Stadt.
Milan Fahrija, Doktor der Volkswirtschaft, und im Bosnischen Innenministerium zuständig für die Entwicklung von Überlebensstrategien der zerstörten Stadt im kommenden Winter, hat bei einem Glas Limonade aus Wasser und Kirschengelee schon lange auf uns gewartet. „Wir hungern noch nicht“, sagt er leise, „aus den Hilfslieferungen der UNO gibt es Reis und Makkaroni, Makkaroni und Reis, manchmal Mehl oder etwas Öl. Viel mehr kommt hier nicht an, seit die Hilfsflüge Anfang September eingestellt wurden.“ Schlimmer ist, daß hier in wenigen Wochen der Winter beginnt, und es in der ganzen Stadt kein Heizöl, keine Elektrizität, kein Brennholz und keine Kohlen mehr gibt. Der Flughafen ist nicht wintertauglich. Die Wege der Hilfskonvois über die bosnischen Berge werden bald nicht mehr passierbar sein: „Und selbst wenn wir über Heizmaterial verfügen würden, es würde bei den vielen zerstörten Hausdächern nichts nützen. Fenster, die die sechsmonatige Belagerung der Stadt heil überstanden haben, gibt es nicht mehr — noch bevor in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt ist, werden hier die ersten Menschen erfrieren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen