: Menschen können nicht in ihre Häuser
Großbrand in Kunststoffrecyclingfirma Lengerich vertreibt 900 AnwohnerInnen/ Möglicherweise Verseuchung des gesamten südlichen Stadtgebiets mit Dioxin ■ Aus Osnabrück Hermann-Josef Tenhagen
Der Großbrand in einer Kunststoffrecyclingfirma im westfälischen Lengerich ist gestern morgen nach 54 Stunden zwar gelöscht worden. Ein ganzes Stadtviertel aber ist jetzt unbewohnbar. Am späten Montag abend forderte der Stadtdirektor von Lengerich, Thomas Striegler, die 900 schon einmal evakuierten BewohnerInnen auf, ihre Häuser vorläufig zu verlassen. Striegler gab mit einer Flugblattaktion, per Megaphon und per Radiodurchsage den Menschen in der Gefahrenzone eins die dringende Empfehlung, „sich für die nächsten zwei bis drei Tage in dem Gebiet einschließlich der Wohnräume nicht aufzuhalten“. Die Stadt stellte eine Dreifachturnhalle zur Verfügung. Jeder Kontakt mit den Brandrückständen sollte dringend gemieden werden, so der Stadtdirektor. Eine erhebliche Gesundheitsgefährdung sei nicht auszuschließen. Bis zum Donnerstag abend wollen die Behörden über Erkenntnisse verfügen, ob die Menschen wieder in ihre Häuser zurückkehren können. Im Endeffekt, so ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung, könne es „auch darauf hinauslaufen, daß zig Wohnungen unbewohnbar sind“.
Bei Messungen der Luft in der Nähe der Brandstelle waren Dioxinwerte um 5 Nanogramm (Toxiditätsäquivalent) pro m3 Luft gemessen worden. Der angestrebte Grenzwert für die Abluftfahne einer modernen Müllverbrennungsanlage liegt bei 0,1 Nanogramm, die realen Werte häufig nur bei 0,01 Nanogramm. 0,1 ng Dixon nehme ein Bundesbürger durchschnittlich im Jahr mit seinen Lebensmitteln auf, so der Osnabrücker Toxikologe Niels-Peter Lüpke. Die Stadtverwaltung äußerte nach der Brandkatastrophe eine drastische Warnung. Über die Gefahrenzone eins hinaus hat sie vom Brandort aus südwestlich bis zur acht Kilometer weiter südlichen Stadtgrenze eine Gefahrenzone eingerichtet. Auch dort sollen Kinder bis auf weiteres nicht draußen spielen. Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten sollte nicht verzehrt werden und möglichst kein Dreck mit Stiefeln oder Schuhen in die Wohnungen getragen werden. Den Schmierfilm von ihren Fenstern und Autos sollten die Menschen auf keinen Fall beseitigen, bevor nicht Messungen genauere Auskunft über die Beschaffenheit des Films zuließen.
Der mehrere km2 große Raum im Südwesten Lengerichs wird hauptsächlich landwirtschaftlich genutzt. Von den Bauern erwarte die Stadtverwaltung, daß sie die Ernte vorläufig einstellen und ihre Tiere, insbesondere die Milchkühe, in den Ställen halten. Die Kommunalbeamten appellierten an die Vernunft der Menschen. Man könne ja nicht jeden mit der Polizei kontrollieren. „Wenn ein Bauer seinen Mais abhäckselt und ins benachbarte Emsland verkauft, wird man das nicht unterbinden können“, so Rainer Kisker von der Stadtverwaltung. In Lengerich tagten auch gestern wieder Krisenstäbe. Die Feuerwehr meldete bis zum Nachmittag über 30 Verletzte durch Rauchvergiftungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen