: Nie war er so wertlos wie heute
Das „Frühwarnsystem“ hat wieder einmal verschlafen/ Gewalt bei politischen Auseinandersetzungen ist kein Fall für den Verfassungsschutz, sondern für eine rechtsstaatlich kontrollierte Politische Polizei ■ Von Claus Leggewie und Horst Meier
Wenn wirkliche oder imaginierte Gefahren drohen und das Krisengefühl wächst, wenn die bange Frage vieler lautet, wer die Fremden und uns vor rassistischen Gewaltausbrüchen schützt, kurz: Wenn der Markt für das Kunstprodukt „innere Sicherheit“ Konjunktur hat, schlägt die Stunde der Sicherheitsapostel aller Disziplinen. In den Wochen „nach Rostock“ haben sich hier vor allem die nahezu in Vergessenheit geratenen „Ämter für Verfassungsschutz“ angedient. Besorgte Demokraten tun gut daran, deren dubiose Hilfe selbstbewußt auszuschlagen: Die Ämter sind ihrerseits in Not. Allein vermögen sie sich nicht aus dem Sumpf ihrer selbstverschuldeten Bedeutungs- und Funktionslosigkeit zu ziehen. Auf der Suche nach dem verlorenen Feind ist unseren Verfassungsschützern jedes Mittel recht. Neuerdings sogar der entschlossene Kampf „gegen rechts“. Wer jedoch genauer hinsieht und -hört, kommt schnell dahinter, daß die FDGO-Schutztruppe praktisch nichts zu bieten hat.
I.
Im Osten Deutschlands sind die Ämter vor allem mit sich selbst beschäftigt. Bevor dort der „Extremismus“ ausgeforscht werden kann, gilt es erst einmal eine ordentliche Verwaltung aufzubauen und Zeitungsausschnitte zu sammeln. Kampf gegen rechts? Fehlanzeige: „Wir sind noch nicht so weit“, lautet seit zwei Jahren das Standardargument. Man könne daher die Szene noch nicht infiltrieren. Und die Mitgift, die Eckart Werthebachs Bundesamt zu liefern versprach? Gab es aus Köln nur Aktenschränke und Wanzen, Buchhalter und Klarsichthüllen? Als wir im Frühjahr 1991 mit dem Chef des Bundesamtes sprachen, wußte er jedenfalls zu erzählen, seine Behörde nehme bis auf weiteres die Aufgaben der noch nicht existierenden Landesämter im Osten der Republik wahr.
Doch halten wir uns nicht länger mit den innerbetrieblichen Problemen des Verfassungsschutzes Ost auf. Schließlich haben wir im Westen Profis, die gut 40 Jahre Zeit hatten, sich im Kampf gegen den Extremismus zu üben. Doch zur Lage in den „alten Bundesländern“ — kleinlautes Schweigen: Auch im Westen verhinderte der Verfassungsschutz keine einzige Attacke.
Statt praktisch verwertbarer Erkenntnisse gibt man Interviews. Um sorgenschwer das eine oder andere diskutable Argument hin- und herzuwälzen, mit dem jede einschlägig informierte Lehrerin seit geraumer Zeit ihren Staatsbürgerkundeunterricht bestreitet. Mit dankenswerter Offenheit hat der neue Chef der Hamburger Verfassungsschützer, Ernst Uhrlau, kurz nach der Rostocker Brandnacht in den „Tagesthemen“ ungefragt den eigentlichen Arbeitsschwerpunkt pointiert: Im Kampf gegen den Rechtsextremismus werde sich in den nächsten Jahren entscheiden, ob der Verfassungsschutz noch eine Existenzberechtigung habe. Die hohe Kunst dieser selbstbezogenen Behörde besteht heute darin, einerseits konkrete Erwartungen sanft zu dämpfen und postwendend an Politik, Erziehung und Familie zu delegieren; andererseits aber diffus genug die „extremistische“ Gefahr zu beschwören, um den naheliegenden Gedanken an den Leerlauf der Ämter möglichst nicht aufkommen zu lassen. Die vom niedersächsischen Landeskriminalamt dementierten Gerüchte über eine bei Neonazis angeblich beschlagnahmte „Todesliste“, das Herbeireden einer „68er-Bewegung von rechts“ (Uhrlau, Spiegel Nr. 38/92) oder die irreführenden Hinweise auf „Weimar“ sind typische Beispiele dafür. Im Westen nichts Neues, läßt sich resümieren.
II.
In jeder Phase waren Wissenschaftler, Journalisten und die kritische Öffentlichkeit besser über Franz Schönhubers „Republikaner“ und selbst Michael Kühnens Nazisekten im Bilde als das „Frühwarnsystem“ Verfassungsschutz. Und die Rostocker Ausschreitungen? Von denen kündete Tage zuvor das „Frühwarnsystem“ Lokalpresse.
Seit dem Ende des Kalten Krieges stehen sich drei Denkschulen gegenüber: Ausbau, Reform und Abwicklung des Verfassungsschutzes. Die „Ausbauer“ nutzen die Verstörung, die Neonazis, vermeintliche Stasi-Seilschaften und neuerdings rassistische Gewalttäter hervorgerufen haben. Sie exportieren den Verfassungsschutz nach Ostdeutschland und verteidigen heute den Status quo. Die „Reformer“, sensibilisiert durch den einen oder anderen Skandal, wollen die Ämter zähmen und ein paar Planstellen abbauen.
Die „Abwickler“ hingegen sehen im Verfassungsschutz ein mißratenes Kind des Kalten Krieges. Sie wollen den institutionellen Niederschlag der spezifisch deutschen „streitbaren Demokratie“ schlicht abschaffen. Auch Bürgerrechtsorganisationen teilen diese Option. Eine radikal klingende Parole, die manchem unbesonnen erscheinen mag: Für die Sicherheitsruine Verfassungsschutz indes bezeichnet sie eine politisch ausgewogene Lösung.
Wer aus einem bangen Gefühl der Bedrohung heraus auf überkommenen Verfassungsschutz — „sicher ist sicher“ — nicht verzichten möchte und fürchtet, dessen Verschwinden werde eine folgenschwere Lücke reißen, sollte sich in einer Stunde der Muße das publizistische Flaggschiff der Ämter, ihren alljährlichen Verfassungsschutzbericht zu Gemüte führen (derzeit lieferbar: die Jahresbilanz 1990). Ein „wehrhaftes“ Geleitwort des Ressortchefs, Platitüden und Banalitäten, Anschlagstatistiken, Mitgliederzahlen, arabische Terroristen und Feierabendguerilla; Dossierverschnitte, Auszüge aus Polizeiakten — reichlich garniert mit Lesefrüchten aus der Frühstückszeitung; nicht zu vergessen, daß ein gewisser Herr K. eine neonazistische Bezugsgruppe im Fichtelgebirge gründete und sieben Kameraden im niedersächsischen Wochenendhäuschen der Familie S. Führers Geburtstag feierten... Kurz: ein belangloses Kompendium der Sektenforschung, das durch jedes gute Pressearchiv in den Schatten gestellt wird.
III.
Wer aber, wenn nicht der Verfassungsschutz, schützt die Flüchtlinge und uns wirksam vor der eskalierenden Gewalt von rechts?
Wir selbst, lautet die erste und allerwichtigste Antwort, überall dort, wo uns Ausländerhaß begegnet, finden wir Gelegenheit, unsere Zivilcourage praktisch zu erproben. Das verlangt meist kein Heldentum, sondern erst einmal die Bereitschaft, nicht wegzusehen. Das ist unbequem, gewiß, doch in der Summe unendlich wirksamer als jede staatliche Sicherheitspolitik. Ausländer leben stets und überall unter sehr vielen „Inländern“. Wir können den angepöbelten Fremden also beistehen und sie in Notwehrlagen vielleicht auch handfest verteidigen. Wo dagegen Behörden der „antirassistische“ oder „antifaschistische Kampf“ angesonnen wird, ist zumeist schon etwas faul. Gleichwohl ist klar, daß wir mitunter auch die prekäre Hilfe von Behörden gegen bestimmte Leute in Anspruch nehmen und einklagen müssen. Mit Instrumenten des Kalten Krieges, aufgebaut im Geiste ideologischer Verfassungsschutzrhetorik, sind indes keine Schlachten gegen militanten Straßenterror zu gewinnen. Wer nicht verantwortungslos dazu aufrufen will, „antirassistische Bürgerwehren“ zu gründen, kann auf den gezielten und wohldosierten Einsatz des staatlichen Gewaltmonopols nicht verzichten. Dieses Monopol, das in Rostock flagrant aufgegeben wurde, übt in erster Linie die Polizei aus. Sie besitzt die einschlägigen Zwangsmittel, um der Gewalt ein Ende zu bereiten, jedenfalls punktuell am Tatort. Es versteht sich, daß gegen offenen Straßenterror Einheiten der Bereitschaftspolizei notwendig sind. Die federführende Ermittlungsarbeit ist allerdings ein klarer Fall für besondere Dienststellen der Kriminalpolizei. Früher, als die deutsche Behördensprache die Dinge noch schnörkelloser beim Namen nannte, hießen diese treffend „Politische Polizei“. Heute dagegen „Polizeilicher Staatsschutz“, der sich hinter Kürzeln wie „FD 7“ (Hamburg) oder „14.K“ (Nordrhein-Westfalen) verbirgt. Diese bis zur Ebene der Polizeipräsidenten eingerichteten Dienststellen der Kriminalpolizei sind neben dem Objekt- und Personenschutz vor allem für politische Straftaten zuständig. Das sind zum einen Staatsschutzdelikte im engeren Sinne wie Hochverrat, Verunglimpfung des Staates oder Störpropaganda gegen die Bundeswehr usw., die oftmals auf fragwürdigem Sonderstrafrecht beruhen. Zum anderen jene Delikte, die einen „politischen Bezug“ haben, d.h. potentiell alle Straftaten, wenn sie nur aus politischen Motiven begangen werden.
„Politische Polizei“ und Rechtsstaat, „Staatsschutz und Demokratie“, wie soll das zusammengehen? Nicht besonders gut, was in der Natur der Sache liegt, und schon gar nicht ohne Reibungsverluste zwischen Ordnungsaufgabe und Freiheit. Polizeilicher Staatsschutz ist gleichwohl angemessener und demokratieverträglicher als der ideologische Zauber eines Verfassungsschutzes, dessen sogenannte Inlandsaufklärung der legalen politischen Dissidenz aufmüpfiger Bürgerinnen und Bürger gilt. Die sogenannten Staatsschutzkommissariate der Kriminalpolizei beschäftigen sich seit jeher mit Handfesterem: mit „politisch motivierten Straftaten“, also krimineller Dissidenz. Das heißt, ihr Geschäft ist die Aufklärung von Straftaten oder deren Prävention, z.B. durch Spitzel, heute V-Leute oder Informanten genannt, deren Einsatz gerade hier Tradition hat.
Es versteht sich, daß dort, wo Polizei und Politik zusammentreffen, Skandale in der Luft hängen. Schon Karl Marx wußte davon als Chronist des Kölner Kommunistenprozesses anno 1852 ein Lied davon zu singen: präparierte Zeugen, gefälschte Dokumente, Provokateure und Horrorgemälde über staatsfeindliche Organisationen vom Hörensagen. Kurzum: jede Menge kriminelle Energie. Nur mit einem kleinen, aber folgenreichen strukturellen Unterschied: Dort, wo der Verfassungsschutz von Gesetzes wegen ausforscht und seine Spitzel lanciert, um „verfassungsfeindliche“ politische Bestrebungen zu überwachen, genau dort ist bei der Politischen Polizei der Skandal fällig: weil sie den eingrenzbaren Bereich der regulären Strafverfolgung verlassen hat. Der eigentliche Skandal namens Verfassungsschutz vollzieht sich lautlos als korrekte Erfüllung seiner dubiosen gesetzlichen Aufgaben; er ist legaler Dauerexzeß im Kampf gegen politisch Andersdenkende. Die Skandale der politischen Polizei beginnen in aller Regel erst dort, wo diese untätig bleibt oder über ihre gesetzlichen Aufgaben hinausschießt; ihr Alltag ist legale kriminalistische Arbeit gegen Straftäter.
Hier, im gesetzlich definierten Schutz handfester Rechtsgüter wie Leben, körperlicher Unversehrtheit oder Eigentum, liegt der entscheidende rationale und kontrollierbare Anknüpfungspunkt, der jede rechtsstaatliche Polizeiarbeit vom trüben Geschäft unserer Verfassungsschützer geradezu wohltuend unterscheidet. Auf diesen strukturellen Unterschied kommt es ungeachtet aller Fragwürdigkeiten des polizeilichen Staatsschutzes an, eben weil „Verfassungsschutz“ bereits der Idee nach demokratische Freiheit korrumpiert. „Fortschrittliche“ Kritik, die solche Unterschiede nicht kennt, verfehlt das Wesentliche im grauen Einerlei des von ihr beschworenen „Repressionsapparates“.
Das bis auf weiteres notwendige Übel namens Politische Polizei kommt heute schon ohne die nachrichtendienstliche Beihilfe des Verfassungsschutzes aus. Kürzlich hat der Vizechef des Bremer Landesamtes, Lothar Jachmann, ÖTV-Mitglied und kritischer Verfassungsschützer, die zunehmende „Konkurrenz“ zwischen polizeilichem Staatsschutz und Verfassungsschutz beklagt (vgl. Bürgerrechte & Polizei, CILIP 42, Nr. 2/1992). Mit Blick auf die Informationsbedürfnisse der Polizei räumt er ein: „Die Prognosefähigkeit des ... Verfassungsschutzes reicht objektiv betrachtet ... selten aus, diese berechtigten Erwartungen der Polizei zu erfüllen.“ — Guten Morgen, Frühwarnsystem!
IV.
Wie die Anschlagserie nach Rostock zeigt, mangelt es heutzutage nicht an Anknüpfungspunkten für polizeiliches Handeln: ein wahres Dorado für Kriminalisten, die auf die Verfolgung politisch motivierter Straftaten spzialisiert sind. Und die dafür sorgen, daß gegen Festgenommene, soweit ein hinreichender Tatverdacht zu begründen ist, Strafprozesse geführt werden können.
Die brutalen Exzesse, die schwelende Neigung zum öffentlichen Totschlag sind Alarmzeichen, nicht schon die Krise selbst oder gar der Anfang vom Ende, die Dämmerung der „Berliner Republik“. Alarmzeichen freilich, die wir bitterernst nehmen sollten. Allzu groß sind die Lust der Zuschauer und die indifferente Sanftmut eines Polizeiapparates, der von ebenso indifferenten Politikern nicht angemessen geführt wird: weil diese lieber auf Asyldebatte machen, anstatt unseren „überforderten“ Mitbürgern im Osten und Westen den Rechtsstaat notfalls einzubleuen.
Wo immer Gewalt in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt wird, hört der Meinungskampf auf. Das gewaltsame Mittel macht ausnahmslos jedes politische Ziel illegitim (auch die Selbstgerechtigkeit einer „autonomen Bürgerwehr“). Denn jenseits dieser Grenzlinie beginnt der Terror gegen Andersdenkende, Flüchtlinge oder wen auch immer. In der Sprache des Strafgesetzbuches hat dieser Terror konkrete Namen: Körperverletzung in schweren Fällen oder mit Todesfolge, gezielter Totschlag und Mord, Brandstiftung usw. Kapitale Straftaten also, die, weil aus Fremdenhaß begangen, „politisch motiviert“ sind — so unausgegoren die psychische Verfassung blaß-verstörter, teil erschreckend gefühlskalter Halbwüchsiger auch sein mag.
Eine realistische Lageeinschätzung zeigt, daß dort, wo wirkliche Gefahren in Verzug sind, das Schielen auf den singulären deutschen Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“, der stets auf seine nicht vorhandenen exekutiven Zwangsmittel verweist, vollkommen verfehlt ist: Solange der Meinungskampf friedlich als ein solcher geführt wird, brauchen wir keinen Verfassungsschutz. Sobald aber gesellschaftliche Konflikte in Gewalt umkippen, kann und darf der Verfassungsschutz nicht weiterhelfen. Aus diesen Kalamitäten führt uns weder die Verpolizeilichung des Verfassungsschutzes, wie sie mit dem Einsatz gegen die „Organisierte Kriminalität“ von Drogen- und Waffenhändlern derzeit lanciert wird, noch die bereits in Gang gesetzte Vergeheimdienstlichung der Polizei (Vorfeldermittlungen, Verdachtsschöpfungen, Gefahrenvorsorge und Undercoveragenten). Das Szenario des Bundesinnenministeriums ist aber eben dies— Ausbau des Verfassungsschutzes zum Alibi- und Propagandainstrument und obendrein umfassende Entsicherung der Polizeigewalt. Rückkehr zum Landfriedensbruchparagraphen der Kaiserzeit, „großer Lauschangriff“ und Vorbeugehaft, lauten die einschlägigen Lösungen in der Gunst der Stunde.
Jene, die kein instrumentelles Verhältnis zu Rechtsstaat und Demokratie pflegen, sollten angesichts wachsender rechter Militanz nicht einknicken: Der Weg aus dem Irrgarten der „inneren Sicherheit“, so riskant er scheint, führt über die Abwicklung des Verfassungsschutzes zur rechtsstaatlichen Domestizierung der Politischen Polizei. Auch die kann freilich wenig ausrichten, solange der Schutz der Republik nicht zur radikalen bürgerlichen Tugend vieler wird.
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