: Litauen: Katzenjammer im rechten Lager
■ Bei den ersten freien Parlamentswahlen seit der Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepublik gewinnt die „Demokratische Arbeiterpartei“ fast 40 Prozent der Stimmen/ Landsbergis gesteht Niederlage ein
Vilnius (AP/AFP) – Der Justizminister der litauischen Regierung sprach von „Volksbetrug“, der Führer der nationalistischen „Freiheitsliga“ malte gar die Gefahr einer „kommunistischen Bedrohung“ an die Wand: Nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der „Demokratischen Arbeiterpartei“ des früheren KP-Chefs Agirdis Brazauskas herrschte im „rechten Lager“ Litauens Katzenjammer. Und dies zu Recht: Nach den jüngsten Umfragen errang die von Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis geführte Nationalbewegung „Sajudis“ nur 22,7 Prozent der Stimmen, die Arbeiterpartei brachte es dagegen auf 39,9 Prozent. An dritter Stelle rangierte die Demokratisch-Christliche Partei mit 13,8 Prozent. Die sozialdemokratische Partei verbuchte 6,2 Prozent der Stimmen für sich. Die übrigen 13 Parteien blieben zusammen voraussichtlich unter zehn Prozent.
Wie die Wahlkommission in Vilnius weiter mitteilte, hat die Arbeiterpartei voraussichtlich 33 Parlamentssitze errungen, Sajudis brachte es auf 19 Mandate. In 15 Wahlkreisen konnte keiner der Kandidaten 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, hier finden in 14 Tagen Stichwahlen statt.
Brazauskas schlug in seinem Wahlkreis Kajsador den Sajudis- Spitzenpolitiker Gediminas Vagnorius, der als Regierungschef die russische Währung durch ein unpopuläres Kuponsystem ersetzt hatte.
Die Demokratische Arbeiterpartei warb in ihrem Wahlkampf für eine stärkere Sozialbindung der Wirtschaftspolitik und eine Annäherung an Rußland. Von besseren Beziehungen zu Moskau erhoffen sich viele Litauer offenbar eine Ausweitung der Öllieferungen. Zu Beginn der kalten Jahreszeit steckt die baltische Republik in einer tiefen Energiekrise, ein großer Teil der Bevölkerung muß ohne Heizung und Warmwasser auskommen.
In einer ersten Reaktion auf das Wahlergebnis erkannte Landsbergis die Niederlage seiner Bewegung an. Da sich nun jedoch die Machtverhältnisse im Parlament und Regierung „spürbar“ veränderten, beginne auch eine neue Etappe im Aufbau des litauischen Staates.
Gleichzeitig forderte Landsbergis Brazauskas auf, den außenpolitischen Kurs der Eingliederung Litauens in das westliche System und der Unabhängigkeit von Moskau fortzusetzen.
Die Freiheitsliga warf Sajudis vor, daß es ihr nicht gelungen sei, die rechten Kräfte zu „bündeln“. Nun zeige sich, daß es ein Fehler gewesen sei, die Arbeiterpartei nach dem Moskauer August- Putsch des vergangenen Jahres nicht zu verbieten.
Die Parlamentswahlen waren die ersten freien Wahlen in Litauen seit der Unabhängigkeit des Landes vor zweieinhalb Jahren. 2,5 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, insgesamt 141 Abgeordnete zu wählen, davon 71 nach Mehrheits- und 70 nach Verhältniswahlrecht. Zur Wahl standen 27 Parteien und politische Bewegungen. Gleichzeitig stimmten die Litauer über ihre neue Verfassung ab, die das Parlament kürzlich verabschiedet hatte. Sie soll das Provisorium ersetzen, das im März 1990 mit Ausrufung der Unabhängigkeit in Kraft getreten war. Sie sieht unter anderem die Direktwahl eines Präsidenten vor.
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