: Gorbi und die Logik der Geschichte
Der Berliner Ehrenbürger Gorbatschow hielt einen Vortrag über die „Freiheit der Wahl“/ Er verteidigte seine Politik und forderte eine neue Koalition für Rußland ■ Von Erich Rathfelder
Berlin (taz) – Gut gelaunt war er, der Michail Sergejewitsch. Während seines Auftritts bei der „Kulturgesellschaft Urania“ vor 900 Besuchern am Dienstag abend in Berlin sprühte der ehemalige sowjetische Präsident vor Witz und Leutseligkeit. Immerhin hatte er ja als Dankesgeste für den Fall der Mauer die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin erhalten. Und es scheint schon heute unwahrscheinlich, daß es ihm so wie den sowjetischen Generälen gehen wird, die nach dem Kriege vom Ostberliner Magistrat ausgezeichnet worden waren. Denen wurde nämlich diese Würde inzwischen wieder aberkannt.
Die peinlichen Einleitungsworte einer Dame der Kulturgesellschaft, die sich nicht enthalten konnte, das Klischee von „der russischen Seele“ zu beschwören, ließ Gorbatschow zwar nicht die gute Laune verderben. Schon eher hätte dies die nicht explizit gestellte Frage vermocht, wie er, der ehemalige Präsident der Sowjetunion, mit einer Würdigung umgehen will, deren Inhalt ihm doch den politischen Boden entzogen hat. Mit dem Fall der Berliner Mauer ist nicht nur der Realsozialismus zerbrochen – den Gorbatschow ja ursprünglich nur reformieren wollte –, sondern auch die Sowjetunion. Mit dem Fall der Berliner Mauer und der Vereinigung Deutschlands konnten erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg Grenzen in Europa verändert werden. Gerade der Freudentag der Deutschen ist ja nicht nur der Schlüssel für den Sturz Gorbatschows, sondern auch Ausgangspunkt für die Wiederauferstehung der Nationalismen, für die Hoffnung von Chauvinisten, mit Waffengewalt Grenzen verändern zu können, vielleicht sogar für eine neue Mauer quer durch Sarajevo. Sicherlich deutet sein Hinweis, daß die Einigung Deutschlands nur „im Einklang mit anderen Staaten“ erfolgen konnte, zu Recht auf den Kern des Gorbatschow-Kultes in Deutschland. Indem er Willy Brandt, dessen Ostpolitik und dessen Rat 1989 schließlich zur „friedlichen Vereinigung“ geführt habe, mit aufs Podest hob, provozierte er den Beifall des Berliner Publikums. Die Ostpolitik und die Entwicklung der Perestroika haben in Gorbatschowscher Sicht die „Umwälzungen“ bewirkt.
In der Beschreibung seiner eigenen Rolle seit 1985 strich er die Aufgabe heraus, einer vom Stalinismus allumfassend durchdrungenen, totalitären Gesellschaft, überhaupt erst die „Freiheit der Wahl“ ermöglicht zu haben. Die Reform sei eine „Reform von oben“ gewesen. Alternativen dazu hätte es nicht gegeben. Eine Bewegung von „unten“ hätte unter den gegebenen Bedingungen nichts ausrichten können. Zunächst wäre es darauf angekommen, die „Freiheit der Wahl“ bei der Staats- und Parteiführung durchzusetzen und dann nach unten zu verbreitern. Diese Strategie von Glasnost und Perestroika habe letztlich auch dem Volk die „Freiheit der Wahl“ gebracht. Was dieses dann mit dieser Freiheit angefangen habe, sei dem Volke selbst überlassen worden. Die Freiheit der Wahl aber hätte nicht unbedingt zur „Wahl der Freiheit“ geführt.
Und an dieser Stelle war ihm ein Anflug von Verbitterung anzumerken. Denn ihm, dem von seinen Gegnern im demokratischen Lager in den letzen Jahren immer wieder vorgeworfen worden war, die Reformen verschleppt zu haben, fällt es offensichtlich nicht leicht, die neue Führung unter Jelzin zu bejahen. Hat sich nicht seit seinem Rücktritt der Lebensstandard der Gesellschaft noch einmal halbiert? Die Handhabung der Wirtschaftsreformen habe Rußland in eine gefährliche Krise gestürzt. Die Wandlungsprozesse müßten langsamer vor sich gehen, selbst Margaret Thatcher habe zwölf Jahre gebraucht, um 18 Prozent der Industrie zu entstaatlichen. Rußland brauche eine neue Koalition. Der Sturz Jelzins jedoch würde die Gesellschaft spalten und die Reformpolitik weiter verkomplizieren. Doch sein Aufruf zum Handeln klang wie eine versteckte Warnung an Jelzin. Auch dies: Ganz ausschließen möchte er seine Rückkehr auf die politische Bühne nicht.
Und als wolle er sich für seine Entmachtung entschuldigen, erklärte er in dem ihm eigenen Duktus: Die Geschichte habe ihre eigene Logik, ihr „Tempo war in den letzten Jahren schwer voraussehbar“. War das auch ein kleiner Hinweis darauf, daß der Berliner Ehrenbürger die Rolle des Fallens der Mauer für seine Entmachtung durchaus verstanden hat? Es klang, als tröstete der Hegel-Kenner sich selbst: Aus der Logik der Geschichte gibt es kein Entrinnen. Auch nicht für Gorbatschow.
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