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Fallensteller und Gestellte

Wie sich junge deutsche Kunst in Paris unter dem Titel „Wer, was, wo?“ verheißungslos dekonstruiert  ■ Von Mirjam Schaub

In Frankreich gibt es Philosophen, die gehören nicht nur zum guten Ton, sie verleiten auch zu schlechtem Umgang. Und da ihre Philosophie – wie alles – gerettet sein will, verlieben sie sich in Kunstwerke, die das verkörpern, worüber sich nichts mehr sagen, was sich nur noch stammeln ließe: „Das Subjekt ist abwesend.“ / „Die Grenzen der Lesbarkeit sind erreicht.“ / „Was bleibt, ist die Spur.“ Im Zeichen dieser zeitgemäßen Auflösungslust haben in Paris zwei junge Ausstellungsmacher, Hans- Ulrich Obrist und Laurence Bossé, einen „Blick auf die Kunst in Deutschland im Jahr 1992“ gewagt. – „Qui, quoi, où?“, also „Wer, was, wo?“, heißt die neue Pariser Ausstellung im Musée d‘Art Moderne, die gleich 18 junge deutsche KünstlerInnen dem französischen Publikum vorstellt – als Teil III des Kulturprojekts „Parcours Européen“ (etwa: Europa leichtgemacht). Parallel hierzu und in angrenzenden Räumen widmet sich eine Einzelausstellung dem Werk von Hans-Peter Feldmann. Als Feldforscher des banalen Alltags war er in den achtziger Jahren in Deutschlands Kunstbetrieb in Vergessenheit geraten, als Geheimtip tauchte er hinter den neuen Lebenswelt-Clowns (Kippenberger & Co.) wieder auf. Sein ikonographisches Heimatarchiv, colorierte Postkarten und Illustriertentitel aus den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren ist ein Kontrapunkt zu „Qui, quoi, où?“.

Wer sich also – mit der Erkennungsmelodie der guten alten Sesamstraße ihm Ohr („Wer, wie was? Wieso, weshalb, warum?“) – im Museum einfindet, ahnt bereits, daß es sich bei der Ausstellung um so etwas wie eine Lehr- und Leistungsschau jüngerer deutscher Künstler und Künstlerinnen handeln muß. Eine Französin, Besucherin der Vernissage, zischt ihrer Freundin denn auch prompt indigniert ins Ohr: „Das ist ja wie im Flohzirkus.“ (Sie muß nur noch den Bestdressierten unter den 18 ausmachen; im Flohzirkus beherrscht jeder Floh lebenslänglich exakt ein Kunststück und wird nicht älter als ein Jahr.)

Der Verdacht erhärtet sich nach wenigen Schritten mit der Präsentation von Maria Eichhorns Arbeitszimmer unter dem Titel „Leinwand/Pinsel/Farbe“. Die Berlinerin glaubt im Ernst, irgend jemand könnte sich noch am formalistischen 1:1 von Arbeitstisch und grundierten Leinwänden weiden. Ein Arbeitsplan an der Wand will die Installation als „work in progress“ aufwerten, indem er auf Künstler und Bekannte verweist, die kommen sollen, um am Verschwinden der Autorin mitzuhelfen. Im Sinne der indignierten Französin präsentiert sich Eichhorn mit ihrer koketten „Who did it?“-Frage natürlich als Klassikerin einer Moderne à la Duchamp – analog zum Vorzeige-Floh im Zirkus. Dieser nämlich muß gar nichts können, sondern wird, mit seiner Drahtschlinge um den Hals, an einer Schachfigur befestigt, im Publikum umhergereicht: „Seht, dies ist ein Floh.“ So.

Auch die Nummer von Albert Oehlen ist – zumindest dem deutschen Publikum – bekannt. Oehlens Bilder sind immer noch nichtssagend schlierig, seine typographischen Arbeiten unaussprechlich fad. Eran Schaerf dagegen zieht sich, nach seinem ausgeklügelten documenta-Beitrag, in Magrittes berühmte Pfeife, die keine Pfeife ist, zurück und züchtet Frauengesichter mit Sprechblasen auf originalverpackten Papierstapeln. Die Inkongruenz von Text und Bild gerät bei ihm zur Endlosspiegelung... Öde Selbstreferenz, von Schaerf listig affirmiert, zeigt Martin Kippenberger dagegen – wie selbstverständlich mit dem gewollten Gestus des Linkischen – als lädiert und lächerlich gemacht. Kippenberger installiert zwei hölzerne Gestelle, Jägerhochsitz und Bademeisterhochsitz, „Aug' in Aug'“. An den Wänden hängen gemalte Schrifttafeln, Weiß auf Weiß, mit makabren Übungssätzen („Eine Schnecke kriecht über eine Rasierklinge“), zynisch belohnt von „Sehr gut“-Zensuren: Klassenzimmer, Stadtbad und Schulwald als Hort paranoischer Grausamkeit. Der Spielraum für Kippenbergers deutsche Hausaufgaben steht allerdings in keinem Verhältnis zu dem der verschwiegeneren Installationen und Arrangements, die sich wegen der schlecht ausbalancierten Raumaufteilung in die letzten Winkel ducken und gegenseitig behindern müssen.

Solchen Widrigkeiten zum Trotz hat Martin Honert mit seinem hypernaturalistischen „Vogel“, dem magischen „Haus“ aus Polyesther eine richtige David- Lynch-Idylle auf engstem Raum gezüchtet; während Piotr Nathan von verlassenen Wohnräumen erzählt, auf seine Weise. Vier Einzelarbeiten kombiniert er zu einem Ensemble vor drei Wänden. Auf dem Boden sind lose Keramikbruchstücke in Form eines riesigen Flecks geordnet, durchzogen mit einer strengen ölfarbenen Trasse in Chinarot. Der winzigkleine, seriell vervielfachte Prägedruck auf der gegenüberliegenden Wandtapete weist das Papiermuster als „die Vergrößerung eines Urinflecks“ aus, der „auf der Matratze des Sterbebettes eines Aids-Kranken entstand“. Zur Linken deuten sogenannte „Snowflakes“ – 780 Scherenschnitte aus dem Vinyl alter Schallplatten – wie diskrete Klangfiguren einer Cage-Partitur auf unhörbare Begleitmusik. Die Versatzstücke ungastlich gewordener Lebenswelten leiden bei Nathan nicht an der serieller Redundanz – ihre erzählerische Wiederauferstehung wird ernst-, jede Nostalgie in Kauf genommen.

Die feinste – und fieseste – Arbeit von Qui, quoi, où? ist wohl Andreas Slominiski gelungen. Mit der Geduld eines Enzyklopädisten hat er alle erdenklichen Tierfallen – aus Holz, Aluminium, Draht – zu klassifizieren, zu rekonstruieren oder neu zu erfinden versucht. Da stehen sie nun in Fuß- und Kniehöhe, flügeltürig, labyrinthisch, hochgiftig oder einfach nur verschlagen; ausgeklügelte Fang-, Folter- und Tötungsmechanismen für Mäuse, Marder oder Biber. An der Rückwand findet sich eine Suite mit Portraits des Fallenstellers: Bleistiftskizzen einer männlichen Visage als der Prototyp des Gewitzten. Slominiskis Fallen sind der natürlichen Logik des Opfers verschrieben, artgerecht zugeschnitten auf alle ökologischen Nischen, Kunst- und Lebensräume. Sie sind – vor jeder Verweisung, wie ein gutes Kunstwerk funktionieren könnte – real und gemeingefährlich. Eigentlich sollte, als Krönung, eine ungesicherte Grizzlybärenfalle aufgestellt werden. Aus „versicherungstechnischen Gründen“ hat Bösewicht Slominiski darauf verzichten müssen.

Die wenigen „Neuentdeckungen“ der Aussteller sind Wiebke Siem und Tobias Rehberger. Siem spielt – handwerklich perfekt – mit den Versatzstücken von Maßschneiderei. Ihre Figurinen, Serien reliefartiger Torsi und Rümpfe, in erdfarbenem Stoff eingenäht, bilden phantasmatische, lebensgroße Körper, wie Playmobile. Tobias Rehberger, Jahrgang 1966, schnitzt unverdrossen seine Fruchtbarkeitsstatuetten, Zeugnisse scheinbar primitiver Holzplastik. In der Irreführung ethnologischer Referenzen erschöpft sich sein konzeptueller Witz.

Allein Else Gabriel und Ulf Wrede haben mit ihrer Installation „Birds of Welcome“ genügend Esprit, sich ins Offene zu wagen. Leider vertrauen sie nicht allzusehr auf die Wirkung ihrer computergenerierten, altdeutschen Namensregister [826) Strinz Mudrich, 821) Brimo Quappenlever] und die in eine Raumecke geklebte Doppelhelix. In den vergrößerten Windungen des Erbmaterials zeigt sich wie im Rebus der Evolutionssprung vom Amphibium zu Harpune und Kriegsgerät. Die scheinbar freie Namenskombinatorik wird mit dem genetischen Telos der Gattung rückgekoppelt: Verengung des Lebens auf den Zerstörungswillen. Leider können sich (e.)Twin Gabriel nicht auf ein einheitlichens semantisches Niveau verständigen. Stattdessen fahren sie sich mit einem ready-made (Cosmoball: eine Discolichtkugel aus den USA) und zwei in sich durchaus schlüssigen Objekten (Kochplatte mit festgelöteter Trompete) in die Beweisführung. Derart additiv funktioniert eine Installation nur bei genügend Raum und Inszenierungsfreiheit.

Um diese Bewegungsfreiheit aber war es bei vielen der gezeigten Werke schlecht bestellt. Miserabel beschriftet, eng zusammengedrängt oder launenhaft verteilt, fristen sie ihr transitorisches Dasein in zeitgemäßer Unübersichtlichkeit. Leider mußte auch der Ausstellungskatalog schon am Tag nach der Vernissage wegen grober Druckfehler wieder eingestampft werden... Qui, quoi, où? mag eine repräsentative Bestandsaufnahme junger deutscher Kunst im Jahr 1992 sein – überraschend ist sie nicht. Am schmerzlichsten ist, daß die Schau theoriebewußte Statements mit Konzept verwechselt, beflissen ihr Heil in postmoderner Souvenierjagd sucht. (Gewährsmann Sloterdijk wird kataloggerecht zum Interview gebeten.) Die beiden Ausstellungsmacher Obrist und Bossé haben sich bei der zugegeben heiklen KünstlerInnenauswahl – wie es scheint – eher von nächtlicher Jacques-Derrida-Lektüre als von konzeptioneller Eingebung leiten lassen: Ausstellen dürfen demzufolge KünstlerInnen, deren Arbeiten a) die Realität und b) unsere Wahrnehmung in Frage stellen (destruieren) und sich c) kritisch und/oder d) autonom damit auseinandersetzen, indem sie a) und b) neu (re)konstruieren (= Dekonstruktion).

Die Problematik einer – im weiteren Sinne poststrukturalistischen Kunstkonzeption – liegt darin, daß sie allzusehr auf die letztlich nicht entschlüsselbaren Spuren- und Zeichenhaftigkeit von Kunstwerken vertraut. Sie begnügt sich gern mit dem allgemeinen Verweisungscharakter des Anwesenden auf ein Abwesendes, des Bezeichneten auf das Bezeichnete, der Spur auf den Spurenleger... sie ignoriert damit, was das Funktionieren von Slominiskis Fallen erst garantiert: Die gelegte Spur muß verführen. Die Falle muß das Begehren wecken, bevor sie es enttäuschen kann.

„Qui, quoi, où? – Ein BLick auf die Kunst in Deutschland im Jahr 1992“ – mit Stephan Balkenhol, Maria Eichhorn, (e.)Twin Gabriel, Andreas Gursky, Leni Hoffmann, Martin Honert, Martin Kippenberger, Udo Koch, Christian Philipp Müller, Albert Oehlen, Thomas Locher, Tobias Rehberger, Michael van Ofen, Piotr Nathan, Eran Schaerf, Thomas Ruff, Andreas Slominiski, Wiebke Siem – Einzelausstellung: Hans-Peter Feldmann. – Im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris, 11, Avenue du Président Wilson, Metro: Iéna, täglich (außer Mo.) 10.00–17.30 Uhr, Mi. bis 20.30 Uhr; noch bis zum 17.Januar 1993.

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