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Tschechow auf italienisch

■ Natalia Ginzburgs „La Segretaria“ in München

Natalia Ginzburgs große Passion ist die Familie. Aber die schriftstellerische Leidenschaft verdankt sich der Erfahrung des Verlusts. Denn die alten Beziehungen zerbrechen, und die für die Ewigkeit bestimmten Gefühle erweisen sich als grande illusion. Zurück bleiben das fragmentierte, isolierte Ich – und seine Sehnsüchte, seine Erinnerungen. Natalia Ginzburgs große Romane, vor allem das 1963 erschienene „Familienlexikon“, sind lakonische und luzide Bestandsaufnahmen, retrospektive Bilanzen „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.

Die Theater-Autorin Ginzburg, in den Achtzigern in Italien immerhin die Spitzenreiterin der Aufführungsstatistik, gilt es in Deutschland erst noch zu entdecken. Dabei ist ihre Schreibart durchaus vertraut, orientiert sich an Tschechow, den sie in einem Essay zum Helden einer typischen Ginzburgschen Novelle gemacht hat.

Auch „La Segretaria“ vom Münchner Residenztheater, jetzt in deutscher Erstaufführung vorgestellt, ist ein spätbürgerliches Konversationsstück, bei dem die Geschwätzigkeit auf engstem Raum unterderhand zur Diagnose eines Zeitalters und eines Seelenzustands wird. Während die Romane freilich ungeniert autobiographisch die Tragödie der Epoche enzyklopädisch protokollieren, sind Ginzburgs zehn Stücke – und ganz besonders „La Segretaria“ – gewissermaßen satyrische Ergänzungen, Komödien des hysterischen Stillstands. Bei der „Sekretärin“ sind die klassischen Einheiten, Ort, Zeit und Handlung, gewahrt. Sechs Personen suchen, zunehmend verzweifelt und nicht frei von Bizarrerien, sich selbst und einen Verleger – eine Godot-Travestie, die nicht liebt und nicht zahlt und sich am Ende durch Selbstmord entzieht. Wie immer bei der Ginzburg, sind die Familie oder familienähnliche Beziehungen der überschaubare Mikrokosmos, der alle Themen und Tragödien in nuce enthält. Man kann an ihnen die Regeln der Liebes- und Machtspiele und die Dramaturgie der Ausweglosigkeit studieren.

Regisseur Felix Prader, einst Assistent bei Robert Wilson und Peter Stein, mixt die Errungenschaften seiner Lehrer, um dem Geheimnis der tiefernsten Ginzburgschen Komödie und ihrer unfaßlichen Leichtigkeit auf die Spur zu kommen. Er vergröbert den Konversationston, das Alltags- Parlando, indem er mit scharfen Kontrasten arbeitet, der Mechanik des Schnell-Langsam, Laut-Leise, Expressiv-Gleichgültig. Und er versucht, wie Peter Stein in seinen besten Arbeiten, den rhetorischen Untergrund seiner Figuren bloßzulegen. Die Ginzburg arbeitet ja mit leitmotivischen Wiederholungen, immer wieder tauchen bestimmte Sprach- und Existenzfloskeln auf: der Fiat 600, der alle zehn Meter stehenbleibt, und das Dasein, das man nicht wie einen Eimer Wasser wegschütten könne. Aber Prader schafft es nur halb, in den sprachlichen idées fixes die Psychopathologien des Alltagslebens bloßzulegen. Seine „Segretaria“ tut nicht so weh, wie sie sollte und könnte; sie ist Salon, Boulevard, Entertainment, eine halb tschechowsche, halb neo-realistische Oberflächen-Komödie im italienischen Landhaus- und Verfallsambiente, die letzten Endes harmlos bleibt. Schön anzuschauen in dem weiten, hohen, formvollendet bröckelnden Bühneninnenraum von Peter Schulz, aber ohne Folgen, ohne Schmerz.

Dabei hat Natalia Ginzburgs Stück aus dem Jahr 1967 – und das rechtfertigt seine späte Ausgrabung – durchaus prognostische Qualitäten: Es ist ein Impromptu aus dem narzißtischen post- histoire, wo sich die Tyrannei der Intimität bestens mit versierter Beziehungslosigkeit und monologischer Kälte verträgt.

Es führt Zombies des mißglückten Emanzipationszeitalters vor: den Arzt Enrico (Daniel Friedrich), der überall dabei sein und sich nirgendwo einmischen möchte; die junge Sekretärin Silvana (Kaja Amberger), die keine Geschichte mehr hat, selbst aus dem letzten Zusammenhang, dem des Nutzens und der Berechnung nämlich, herausgefallen ist und nachgiebig-pflanzenhaft nur noch in zerfasernde Augenblicke hinein lebt. Oder Nino, den Ehemann (Michael Hanemann), der sich entzieht, indem er Nichtigkeiten forciert und sich zum Clown der Umstände macht. Im Zentrum aber stehen zwei Frauen, deren Unzufriedenheit eher prophetisch als privatistisch zu nennen ist: Sofia (Tanja von Oertzen), deren Mann in exotische Gefilde entschwunden ist und für die sich zunehmend alles aufs „Biologische“ reduziert: auf Familie, Kinder und die heftig romantisierte „Liebe“ zum abwesenden Verleger Eduardo. Und ihre dauernd gebärende Schwägerin Titina (Esther Hausmann), deren Wut und Hysterie zum Symbol des falschen Bestehenden wird, das sie aber selbst nicht ändern will oder kann, sondern durch Unleidigkeit zementiert. Felix Prader macht aus diesen Zombies freilich Marionetten der Ad-hoc-Komik, die den Zuschauer nicht zu beunruhigen brauchen. Gabriele Mayer

Natalia Ginzburg: „La Segretaria“. Regie: Felix Prader, Bühne: Peter Schulz. Mit Tanja von Oertzen, Esther Hausmann, Daniel Friedrich u.a. Münchner Residenztheater. Nächste Vorstellungen: 17./18./21./28. Dezember

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