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Fürsorgliche Belagerung

Diskussion zu Heinrich Böll und dem deutschen Herbst  ■ Von Stefan Koldehoff

Sieben Jahre ist er tot – trotzdem wird Heinrich Böll nach wie vor vereinnahmt. „Wer über den deutschen Herbst 1977 spricht“, forderte Christiane Ensslin in einer Podiumsdiskussion in der Kölner Volkshochschule, „muß auch über den Sommer 1972 reden, als die gesamte erste RAF-Generation in verschiedenen Knästen isoliert war. Alle späteren Aktionen sollten dazu dienen, Gefangene freizubekommen. Hätte man damals auf Böll gehört, wäre das nicht passiert.“ Das ging René Böll zu weit: „Mein Vater hat sich nicht für die Freilassung der Terroristen eingesetzt, sondern für ihre gerechte Beurteilung.“

„Deutscher Herbst“ hieß die Veranstaltung, die die Heinrich- Böll-Stiftung aus Anlaß seines heutigen 75. Geburtstages in Köln im Rahmen der Heinrich-Böll- Woche organisiert hatte. Das Podium ist hochkarätig besetzt: Mit Hans-Jürgen Wischnewski stellt sich einer der damals (als Staatssekretär und Koordinator der Krisenstäbe) politisch Hauptverantwortlichen der Diskussion. Ihm sitzen Leute zur Seite – René Böll, Friedrich Christian Delius, die Literaturwissenschaftlerin Manon Andreas-Griesebach, der Journalist Stefan Lohr, der ehemalige BDI-Präsident und Schleyer- Nachfolger Nikolaus Fasolt und Christiane Ensslin –, die zum Thema eine Menge hätten sagen können – hätte der Moderator bessere Fragen gestellt.

Man hätte zum Beispiel ein Gespräch darüber führen können, warum Böll schon damals die unbestrittene moralische Instanz war, die er bis heute geblieben ist. „Ich wohne in der Nähe der Hülchrather Straße“, so Christiane Ensslin im Laufe des Abends, „und wenn er heute noch lebte, würde ich Böll um Hilfe bitten.“ Als wie sinnvoll hätte sich an dieser Stelle die so dringend notwendige Diskussion über die völlig unterschiedliche Motivlage der LinksterroristInnen damals und der RechtsterroristInnen heute und über ihren Rückhalt in der Bevölkerung erweisen können. „Natürlich gab es Ähnlichkeiten und große Unterschiede, auch in der staatlichen Reaktion. Aber für den, der ermordet wurde, ist der Unterschied nicht so groß“, konstatiert nüchtern der Sozialdemokrat Wischnewski. „Jeder Vergleich wäre unzulässige Verharmlosung“, kann dem gerade noch Stefan Lohr entgegenstellen.

Kein Gedanke an die bis heute andauernden Nachwirkungen jenes Herbstes, daran, daß in der deutschen Sprache, derer Böll sich so virtuos bediente, ein Begriff wie „strukturelle Gewalt“ bis heute als analytische Grundlage des Terrorismus tabuisiert geblieben ist. Kein Erinnern daran, wie Bölls Essay „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit“ im Spiegel vom 10. Januar 1972 und sein 1979 erschienener Roman „Fürsorgliche Belagerung“ vor allem von der Springer- Presse rezipiert und denunziert wurden. René Böll, der damals vielleicht zwanzig war, erzählt von Drohbriefen und Hausdurchsuchungen ohne richterliche Genehmigung. Seine Schilderungen bleiben merkwürdig fern.

Der Mann, der das Kunststück fertigbringt, aus einem extrem aktuellen Thema und einem sachkundigen Podium vor allem heiße Luft zu locken, ist Bernd Balzer, Professor für Literatur an der FU Berlin. Als Diskussionsleiter konzentriert sich der Böll-Biograph vor allem auf das mittlere Wort der Trias „Moral – Ästhetik – Politik“, eines der Böll-Wochen-Themen. Wie er denn die „Fürsorgliche Belagerung“ gelesen habe, will er beispielsweise von Nikolaus Fasolt wissen. Böll zeichne ein falsches und irreführendes Bild von der Wirklichkeit, antwortet unbekümmert der greise Industrielle: „Er schreibt über die Abläufe in einem Industrieverband wirklich alles andere als das, was ich selbst über viele Jahre erlebt habe. Die Buddenbrooks sind näher an der Wirklichkeit als Böll.“

Warum der weißhaarige Ästhet als vermeintlicher Literaturkenner dem Literaten Böll nicht seine Solidarität versichert habe, als er und seine Familie im Herbst 1977 die illegalen Repressalien des Polizeistaates erfuhren, interessiert Balzer leider nicht. Der Hinweis, daß die Abbildung der Realität überhaupt nicht Aufgabe der Literatur sei, blieb Manon Andreas-Griesebach vorbehalten. Böll selbst hatte 1966 in seinen Frankfurter Vorlesungen für Politik die Subjektivität des Schriftstellers verteidigt, als er schrieb: „Moral und Ästhetik erweisen sich als kongruent, untrennbar auch, ganz gleich, wie milde oder wie wütend, mit welchem Stil, aus welcher Optik ein Autor sich an die Beschreibung oder bloße Schilderung des Humanen begeben mag: zerstörte Nachbarschaft, vergiftetes Gelände machen es ihm unmöglich, Vertrauen zu stiften oder Trost zu spenden, der einzige Trost, den meine Altersklasse zu bieten hat, ist der Vorübergehende, der Trost des Vergänglichen.“

Wieder ist es Herbst in Deutschland. Wieder steckt die deutsche Politik in einer schweren Krise, und wieder hat es den Anschein, der republikanische Rechtsstaat sei in Gefahr. Trotz der deutlich zu lau geführten Diskussion drängt sich der Eindruck auf, Bölls moralische Autorität sei stärker denn je.

Zum Thema „Der Deutsche Herbst – Heinrich Böll und die Terrorismus-Diskussion der 70er Jahre“ findet noch bis zum 23. Januar eine Ausstellung im Historischen Archiv der Stadt Köln, Severinstraße 222-228, statt. Der reichlich bebilderte, 100seitige Katalog kostet 3 Mark

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