: Philosophie als Leidenschaft
Gesichter der Großstadt: Martin Gutzeit, Mitbegründer der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, wird Stasi-Beauftragter des Landes Berlin ■ Von Dieter Rulff
Berlin. Er habe, resümiert Martin Gutzeit, immer das gemacht, wozu er eigentlich nicht geeignet war. Was aus eines anderen Munde wie ein Eingeständnis des Scheiterns klingt, ist bei dem zukünftigen Stasi-Beauftragten des Landes Berlin eher ein nüchternes Nachzeichnen der Dialektik seines bisherigen Lebensprozesses. Eines Prozesses, der ihn von der abgeschiedenen Stille einer Dorf-Pfarrstelle im Mecklenburgischen ins Zentrum der Umgestaltung und schließlich der Auflösung der DDR und hernach wieder in die relative Abgeschiedenheit des Forschens und Archivierens bei der Friedrich-Ebert-Stiftung führte. Gutzeit erkennt in diesen Abläufen und Stationen eine gewisse Notwendigkeit, doch keine Zwangsläufigkeit, er ist, und dies ist seine mehr offene als heimliche Leidenschaft, Hegelianer.
Der Philosophie widmete sich Gutzeit, seit er 1972 am Ostberliner Sprachkonvikt mit dem Studium der Theologie begann, „von Heraklit angefangen“. Wenn er berichtet, daß er allein zwei Jahre lang Platons „Parmenides“ studiert hat und weitere eineinhalb Jahre den „Sophistes“, zeugt das von einer Gründlichkeit, die in heutigen Zeiten leicht verschroben wirkt. Doch wenn er sagt, daß es ihm um die „Rehabilitation der metaphysischen Freiheit“ ging, dann lag darin, in der damaligen DDR, eine gewisse Sprengkraft und auch ein Risiko. Die philosophischen Studien gingen „gegen den Wahrheitsanspruch der SED“. Die Freiheit der Nische, die in jenen Jahren am Sprachenkonvikt herrschte, und die eine ganze Reihe der späteren oppositionellen Geister hervorgebracht hat, bewahrte sich Gutzeit, als er Pfarrer im mecklenburgischen Schwarz wurde. Dort, in der ländlichen Abgeschiedenheit, pflegte er seine philosophischen Diskurse weiter, zusammen mit seinem Freund Markus Meckel.
Für beide führte das Denken zur politischen Praxis. „Begriff und Wirklichkeit klafften in der DDR auseinander“, was lag näher, als den Verhältnissen die eigene Melodie vorzuspielen. „Man muß die Wirklichkeit eines jeden an seinen Begriffen messen“, umschreibt Gutzeit die damalige Strategie gegenüber der SED. Deren „Scheinbegriffe“ galt es offenzulegen. Noch heute überkommt ihn eine geradezu diebische Freude, wenn er in den nunmehr ihm zugänglichen Aufzeichnungen des Politbüros nachvollzieht, wie allwissend und doch zugleich unvermögend der Staatsapparat auf die von ihm und Meckel mitinitiierte Gründung der Sozialdemokratischen Partei reagierte. Er sei damals davon ausgegangen, daß die SED bankrott sei und es darauf ankomme, die Machtfrage zu stellen. „So zu handeln, war zwingend.“
Gutzeit ist kein Machiavellist, er wollte, ganz Philosoph, die Machtfrage stellen, „weil alles andere dem Freiheitsbegriff widerspricht“, doch nicht, um Macht zu haben. Die eigneten sich andere an, auch in der eigenen Partei. Gutzeit wurde Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD in der Volkskammer, für kurze Zeit Abgeordneter des ersten gesamtdeutschen Bundestages. Er gilt als strategischer Kopf im Hintergrund, im Rampenlicht stehen andere. Er hält kaum Reden und begründet das mit der ihm eigenen Zurückhaltung. Gutzeit ist kein Tribun, wenn er spricht, eilen seine Gedanken häufig seinen Worten voraus, dann präsentiert er in kurzen Sätzen, in Satzteilen, mit abschneidenden Handbewegungen unterstrichen, Positionen, von denen er annimmt, daß sie sich seinem Gegenüber auch in ihrer Unausgesprochenheit, schon aufgrund ihrer Schlüssigkeit offenbaren.
Was Gutzeit zur Opposition in der DDR befähigte, hindert ihn an der Politik in der Bundesrepublik. Der Philosoph als Bürgerrechtler ist gut, um in Sonntagsreden als kantiger Kopf gefeiert zu werden, im Alltagsgeschäft sind jedoch geschliffenere Qualitäten gefragt – eine Erfahrung, die nicht nur der Pfarrer aus Mecklenburg machen mußte.
Für Gutzeit ist noch nicht entschieden, ob er sich in Zukunft seinen Hegel-Studien widmet oder wieder in die Politik geht. Die Arbeit als „Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR im Lande Berlin“ bietet ihm für die nächsten fünf Jahre die Gelegenheit, sowohl seinem Interesse am Forschen als auch seiner Neigung zur Intervention nachzugeben. Ihm geht es vorrangig um die historische Aufarbeitung der Repressionsgeschichte der DDR, wobei er diese nicht allein auf die Stasi konzentriert wissen will. Die Richtschnur seiner Beurteilung der Täter sieht er „nicht in dem, was dem Staat zumutbar, sondern in dem, was dem Bürger zumutbar ist“. Damit verbindet er eine Kritik nicht nur an der bisherigen Einzelfall-Praxis, sondern auch an der Neigung der Bürger der Ex-DDR, sich nicht mehr verantwortlich erklären zu wollen. Wer so mit der Vergangenheit umgehe, so Gutzeit, suspendiere die eigene Freiheit. Denn zur Freiheit gehöre Schuldfähigkeit.
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