: Stasi-Major Ludewig schlägt Alarm
Die Staatssicherheit wird von einer wöchentlichen taz-Seite der DDR-Opposition aufgeschreckt/ taz-Serie, Teil 2: Stasi-Offiziere streiten um die richtige Bekämpfung der Zeitung ■ Von Wolfgang Gast
Als Hauptmann Kranz am 29. Januar 1986 einen Auskunftsbericht über das „Presseerzeugnis Tageszeitung“ fertigte, fiel ihm wenig Neues ein. Das war schlecht für die Tonnenideologie, der auch im Ministerium für Staatssicherheit nachgehangen wurde. Jahr für Jahr listeten die MfS-Offiziere der Stasi-Hauptabteilung XXII/8 (Terrorabwehr) schon Bekanntes auf, neue Erkenntnisse flossen nur spärlich. Die in früheren Jahren beschlossenen Versuche, die Redaktion zu beeinflussen, hatten immer noch keine nennenswerten Erfolge nach sich gezogen. Hauptmann Kranz mußte wieder einmal schreiben:
„Der Charakter der 'TAZ‘ als Sammelbecken für Anhänger unterschiedlicher politischer Auffassungen wirkt sich fortwährend auf die redaktionelle Arbeit aus und hat zur Folge, daß eine klare politische Linie nicht erkennbar ist.“
Als Ursache dafür machte Kranz einen Mechanismus aus, der sich völlig von der Arbeitsweise seines Ministeriums unterschied:
„Die jeweilige Haltung der Zeitung zu aktuellen Ereignissen bildet sich im Prozeß von Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gruppen in der Redaktion heraus.“
Was nach Kranz zu einer Ineffektivität und zu einem Mangel an politischer Aussagekraft führte, hätte – in der DDR eingeführt – womöglich den Kollaps des autoritären Systems drei Jahre später verhindern oder abfedern helfen. Als treuer Tschekist mußte Kranz aber so bedauernd zur Kenntnis nehmen, daß die taz zwar „zahlreiche entlarvende Beiträge über die konkreten Maßnahmen der Kriegsvorbereitung durch den US-Imperialismus veröffentlicht hat“. Trotzdem stehe sie aber mit ihrer Kommentierung und in ihrer Gesamteinschätzung auf dem Boden der „Supermachttheorie“. Das Grundübel, hielt der Stasi-Mann in seinem vierseitigen Bericht fest, werde im Wettrüsten der Supermächte gesehen, das angeblich der von den führenden Politikern beider Lager vertretenen Abschreckungsideologie entspringe.
Die Berichterstattung über die DDR sprang Mielkes Genossen immer wieder in die Augen. Gefallen hat sie ihnen nicht:
„Die DDR [wird] vorwiegend aus einer kleinbürgerlich-anarchistischen Perspektive dargestellt, in der kaum Verständnis für die Erfordernisse und Probleme des sozialistischen Aufbaus aufgebracht wird.“
Weil es sich bei der taz aus der Sicht der Hauptabteilung XXII um ein „journalistischen Sammelbecken linksgerichteter extremistischer Gruppen“ handelte, „von dem in zunehmendem Maße staatsfeindliche Aktivitäten gegen die DDR ausgehen“, wurde die Zeitung folgerichtig auch in einer „Feindobjektakte operativ bearbeitet“. Die Registriernummer war XV 1268/86. Was „Feindobjekt“ bedeuten sollte, hatte Referatsleiter Major Müller bereits Ende Januar 1986 festgelegt:
„Beeinflussung der Berichterstattung in der 'TAZ‘ zur Veröffentlichung realer Einschätzungen über die Verhältnisse in den Ländern real existierenden Sozialismus und zur Unterstützung der fortschrittlichen Kräfte in der BRD/WB unter Nutzung des politischen Differenzierungsprozesses innerhalb der Redaktion.“
Hauptmann Kranz wurde beauftragt, „Aufklärungsmaßnahmen zur Identifizierung von Mitarbeitern der TAZ zur rechtzeitigen Erkennung und vorbeugenden Verhinderung subversiver Aktivitäten“ durchzuführen. Ihm oblag es auch, „die operative Nutzbarkeit dieser Personen“ zu prüfen. Erfolge aber lagen noch in weiter Ferne.
Zehn Monate später wurde wieder einmal eine Bilanz gezogen. Die Stasi hatte erst gelesen, schließlich eine Kartei angelegt. In einem Sachstandsbericht vom 4. November 1986 hielt Offizier Kranz einen ersten Fortschritt bei der Identifizierung von taz-Mitarbeitern fest:
„Dies erfolgte vor allem durch ein intensives Studium aller zur Verfügung stehenden Ausgaben der 'TAZ‘ und anderer gegnerischer Medien zur Erkennung bisher nicht bekannter Personendaten... Zur Registrierung der erarbeiteten Informationen wurde eine spezielle Kartei angelegt.“
Neben der Zentralredaktion in Westberlin vermeldete die Stasi Aufklärungserfolg in drei weiteren Redaktionen. Die Inoffizielle Mitarbeiterin mit dem Decknamen „Carmen“ hatte aus der Berliner Wattstraße berichtet, IM „Franke“ beschäftigte sich mit Bremen, IM „Jan“ mit Hamburg. Einen Bericht über die Lokalredaktion Hannover übersandte IM „Betty“.
Die Gedanken von Major Ludewig kreisten wieder einmal um die taz. Der Mitarbeiter der Abteilung XX/2 (politische Untergrundtätigkeit) hatte Zeit, seinen Telefonanschluß mit der Nummer 42326 mußte er an diesem Tag nicht sonderlich bewachen. Es war Heiligabend, der Tschekist hatte dennoch Dienst. Er hatte Zeit, nachzudenken.
„Christian“, ein überprüfter und zuverlässiger Inoffizieller Mitarbeiter der Kategorie IMB, hatte sich gemeldet. IMB stand für „IM mit Feindkontakt“. Christian hatte der Dienststelle mitgeteilt, daß eine nicht weiter bekannte Brigitte, die eine Redakteurin der taz sein sollte, „voll inhaltlich die Aufarbeitung der wöchentlich erscheinenden, ganzseitigen Veröffentlichung über DDR-Oppositionelle übernommen hat“.
Bei der Stasi und Major Ludewig schrillten die Alarmglocken. Die wöchentliche Ostberlin-Seite war den Herrschenden im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat ein ständiger Dorn im Auge. Wie der IMB in Erfahrung gebracht hatte, sollte künftig ein Korrespondent des Spiegel als Kurier die Beiträge der Oppositionellen in den Westen befördern. Der ausgebürgerte Bürgerrechtler Roland Jahn, berichtete „Christian“, sollte aus dem konspirativen Vermittlungsweg ausgeschlossen bleiben, „aus Gründen seiner Unzuverlässigkeit“, wie „Christian“ irrtümlich meinte.
Roland Jahn war dem Major kein Unbekannter. Der unbequeme Bürgerrechtler, Mitglied des Jenaer Friedenskreises, war 1983 von den DDR-Behörden nach Westdeutschland abgeschoben worden. Der Regimekritiker, der anschließend vom Westteil Berlins aus die Kontakte der DDR-Oppositionellen im wesentlichen koordinierte, wurde auch nach seiner Ausbürgerung noch von der Stasi verfolgt. Mehrere Stasi-Abteilungen, darunter die Eliteabteilung „Aktive Maßnahmen“ der „Hauptverwaltung Aufklärung“, versuchten über Jahre, Jahn zu diffamieren, als Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes zum Beispiel.
Was sollte er tun, fragte sich Major Ludewig? Sein Informant hatte weiter berichtet, daß die nicht näher bekannte Brigitte bereits zweimal in Ostberlin „operativ in Erscheinung getreten“ sei und dreimal schon Veröffentlichungen der DDR-Oppositionellen in der taz erfolgt sein sollen. Alle seien gegen die Interessen der DDR gerichtet und teilweise verleumderisch, wie Ludewig in seiner „Operativen Information“ anmerkte. Brigitte mußte umgehend identifiziert werden. Ludewig legte in bestem Stasi-Deutsch fest:
„1. Der IM, welcher ebenfalls mit der Brigitte zusammentreffen wird, wurde beauftragt, einen ihm übergebenen Informationsbedarf zur Einordnung der Aktivitäten abzuarbeiten.
2. Brigitte ist bei erneuter Einreise unbedingt zu personifizieren.
3. Weitere Abstimmung der erforderlichen Maßnahmen zu Brigitte mit Abteilung XXII/8 abstimmen, wobei die Konspiration des IM Beachtung finden muß.“
So geschah es auch. „Christian“ berichtete weiter, und Ludewig schrieb erneut:
„Am 30.12.1986 reiste eine als Journalistin bei der Westberliner Zeitschrift TAZ tätige weibliche Person in die Hauptstadt Berlin ein und hielt sich zu einem vertraulichen Gespräch bei der Quelle auf.“
Die „Personifizierung“ war offensichtlich fehlgeschlagen. Was um so wichtiger gewesen wäre, als der Inhalt des Gespräches dem Stasi-Mann so brisant erschien, daß er eine „umgehende Beratung mit der Hauptabteilung XXII/8 beschloß. Geplant sei, teilte Brigitte dem IM mit, „'Oppositionelle‘ aus Berlin selbst schreiben zu lassen und lediglich eine stilistische Überarbeitung der einzelnen Artikel vorzunehmen [...] Im Zusammenhang mit dieser Absicht sei es gelungen, im Redaktionsrat durchzusetzen, daß in regelmäßigen Abständen in der TAZ eine ganze Seite für Publikationen aus der DDR bereitgestellt wird.“
Ludewig notierte nach den Angaben seines Informanten weiter:
„Vorerst ist geplant, 6 Personen aus der Haupstadt Berlin in das Vorhaben einzubeziehen (Namen nannte sie keine). Geplant ist darüber hinaus, daß jedem dieser 6 Personen ein Redakteur/Journalist zur Seite gestellt wird, insbesondere mit der Maßgabe der inhaltlichen und stilistischen Abstimmung.“
Elektrisiert nahm der Offizier die Information des Spitzels entgegen, wonach die „zum Einsatz kommenden Journalisten“ sich zu ihrer eigenen Sicherheit mit Decknamen vorstellen würden, in keiner Weise als Kurier tätig werden und auch nur „im Falle begründeter Notwendigkeit in die Hauptstadt Berlin einreisen wollten“. Für „außerplanmäßige Kontaktaufnahmen“ und die Übermittlung der Artikel würden noch „besondere Kontaktpersonen benannt“.
Auch „Christian“ sollte für die taz schreiben. Ihm sei beispielsweise vorgeschlagen worden, sich um das Thema „Aktionen für die Umwelt – Vom Staat kriminalisiert“ zu kümmern. Daß der IM keinen Verdacht erregt hatte, beruhigte den Stasi-Mann: „Offensichtlich wurde die Quelle für so zuverlässig befunden, in dem Projekt mitzuwirken.“
Major Ludewig beging anschließend einen folgenschweren Fehler. Er wollte mit den Mitarbeitern der Terrorabwehr nicht nur den weiteren Einsatz des IM erörtern. Er wollte auch die Frage klären, „welche Veröffentlichungen sind politisch tragbar bzw. der Bearbeitungskonzeption zur TAZ dienlich“. Dieses Ansinnen wurde kategorisch abgelehnt. Kaum lag der Vermerk Ludewigs auf den Schreibtischen der Hauptabteilung XXII/8, bearbeitete ihn dort der zuständige Major Müller mit handschriftlichen Notizen. Den Satz mit der Frage: „welche Veröffentlichungen sind tragbar“, strich er kurzerhand durch – handschriftlich trug er statt dessen ein: „keine“. Ausrufungszeichen brachte er dort an, wo im Vermerk über Decknamen, Kuriere und besondere Kontaktpersonen berichtet wurde. Der Stasi-Mann ahnte: „Anfänge wie bei der KPD“.
Müller verfaßte anschließend am 15. Januar 1987 einen eigenen Bericht, in dem den Kollegen aus der Bezirksverwaltung die Leviten kräftig gelesen wurden. Die vorgeschlagenen Maßnahmen wären nicht nur „nicht realisierbar“, sie wären sogar „politisch falsch“. Wie Müller seinem Vorgesetzten, dem Oberstleutnant Petzold, zu Papier brachte, belegten dies
„die durch die Abteilung XXII bei der Bearbeitung der ehem. KPD gesammelten Erfahrungen, da
– die DDR der 'TAZ‘ keine politisch tragbaren Artikel zur Veröffentlichung zu liefern nötig hat und dazu noch mit der Unterstützung des MfS;
– die 'TAZ‘ sofort ihre Auflagenhöhe sowie die Seitenanzahl erhöhen könnte, wenn sie alle in der BRD/WB bestehenden Probleme aufgreift und veröffentlicht und vor allem die gesellschaftlichen Zusammehänge und Ursachen aufdeckt.“
Genosse Müller witterte den Untergrund, den Verrat am kommunistischen Arbeiterideal. Auch bei der KPD, hielt er fest, hätten subversive Tätigkeiten „harmlos“ begonnen. Mit
„ – Kontakt- und Gesprächsanbahnungen von Funktionären der Feindorganisation mit sog. oppositionellen DDR-Bürgern,
– dem Auf- und Ausbau personeller Stützpunkte in der DDR,
– Artikelserien zu Mißständen in der DDR, die in der BRD umgearbeitet und im 'Roten Morgen‘ entstellt veröffentlicht würden.“
Last but not least befürchtete der Abwehrexperte als weitere Parallele zur Politsekte KPD der 70er Jahre, nämlich den
„ – Aufbau stabiler Instrukteur- und Kurierverbindung sowie Decktelefonen und -adressen in der BRD/WB, die sich zu einem funktionsfähigen und für das MfS schwer kontrollierbaren Verbindungssystem 'Zentrale KPD – personelle Stützpunkte in der DDR‘ entwickelten.“
Major Müller sah deutliche Parallelen zwischen KPD und taz. Nur daß die Zeitung allein schon wegen ihrer basisorientierten und antiautoritären Betriebsstruktur eine solche heimliche Strategie kaum hätte durchhalten können, kam den Geheimdienstmann erst gar nicht in den Sinn.
Statt sich „auf irgendwelche Zugeständnisse“ einzulassen, schlug Müller vor, „die IM zu instruieren, von Anfang an, die ideologische Konfrontation zu suchen und durchzusetzen“. Als beste Methode habe sich bewährt, „der Schutz der IM und die Verfügung von Reisesperrmaßnahmen gegen verfestigte Feinde der DDR“. Die Kritiker außerhalb der Grenzen sollten nicht besser behandelt werden wie die „Feinde“ im Innern.
Müllers Vorgesetzter Petzold war einverstanden, auch sollte der lasche Kollege aus der Bezirksverwaltung gemaßregelt werden. Genosse Müller wurde dazu am 19. Januar beauftragt, die Verbindung mit dem entsprechenden Referatsleiter in der Bezirksverwaltung aufzunehmen. Er sollte, „unsere Meinung mitteilen, ohne uns einzuschalten“.
Die Hierarchie funktionierte reibungslos. Zwei Tage später nur war die Bezirksverwaltung Berlin auf den neuen Kurs eingeschwenkt. Kleinlaut bat am 21. Januar der zweite Mann der Bezirksverwaltung, Oberstleutnant Zeiseweis, schriftlich bei der Terrorabteilung,
„zur konkreten politisch-operativen und strafrechtlichen Einordnung den genannten Aktivitäten und der Fixierung geeigneter Maßnahmen zur Unterbindung dieser“ um die Beantwortung folgender Fragen:
„Ergeben sich aus dem bisherigen operativen Erkenntnisstand Anhaltspunkte auf Aktivitäten, unter Benennung publizistischer Interessenlagen, interne bzw. gegen die Interessen der DDR gerichtete Nachrichten zu sammeln und Einrichtungen, die einen Kampf gegen die DDR führen, zugänglich zu machen? Ist zu den genannten Aktivitäten eine personelle Zuordnung, bezogen auf Mitarbeiter der TAZ, möglich?“
Die Geschurigelten gaben klein bei. Das Ergebnis aber war, daß sich der Geheimdienst im Kreis drehte. Am Anfang stand die Information des IMB Christian, der von der Bezirksverwaltung Berlin geführt wurde. Am Ende fragten die Bezirksmitarbeiter hilflos bei der Hauptabteilung XXII nach, die sich selbst nur auf die Informationen aus der Bezirksverwaltung stützen konnte. Die weitere Auseinandersetzung zwischen den Dienststellen ist leider nicht dokumentiert. In den bislang aufgefunden Akten sind keine weiteren Angaben enthalten.
Morgen Teil 3: Die „Aids-Lüge“ und die Stasi
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