: Wild. Roh. Hemmungslos. Kalt.
■ Lois Malles neuster Film „Verhängnis" jetzt in der Schauburg. Ein Politiker verliebt sich in des Sohnes Frau
„Ich sah sie noch einmal am Flughafen. Sie sah aus wie jede andere.“ Das sagt Stephen Fleming (Jeremy Irons) über Anna Barton (Juliette Binoche), aber da war das Verhängnis schon über sie hereingebrochen. Dieser letzte Satz des neuen Films von Louis Malle sagt eine Menge über den Hauptdarsteller Fleming aus. Denn eigentlich betete er die junge Frau an, war besessen von ihrem Körper. Aber Stephen Fleming war Staatssekretär in einem britischen Ministerium mit Aussicht auf einen Posten im Kabinett.
Ein Verhältnis mit einer viel jüngeren Frau ist für einen verheirateten Mann aus der englischen Oberschicht, einen Politiker zumal, ein gesellschaftliches Tabu. Die Verfilmung des Romans der englischen Schriftstellerin Josephine Hart Damage, geht aber noch viel weiter. Fleming hat sich nicht in eine x-beliebige Schönheit verliebt — es mußte ausgerechnet die Freundin und Bald-Ehefrau seines Sohnes Martyn (Rupert Graves) sein.
„Wir sehen Martyns Freunde immer gern“, sagt Stephen Flemings Frau Ingrid (Miranda Richardson) in bester Small-Talk- Manier, als der Sohn die anmutige femme fatale zum ersten Mal mit nach Haus bringt. Was sie nicht wissen kann: Schon wenig später ruft Anna den Staatssekretär an. Er fordert sofort ihre Adresse und fährt hin. Ohne Umschweife oder auch nur ein Wort zu verlieren, folgt der Vollzug ihres sexuellen Aktes. Wild, roh, hemmunglos.
Hier nun muß ernsthaft über den mittlerweile 61-jährigen Regisseur Malle nachgedacht werden. Der Mann kann Filme machen, keine Frage. Als Franzose hat er das ur-britische Upper- Class-Ambiente mit traumwandlerischer Sicherheit eingefangen. Da stimmt jede Geste, jede angedeutete Konvention. Malle arbeitet mit grausamer Perfektion die Eiseskälte der Hauptfigur Stephen Fleming heraus. Ob in seinem Büro, zu Haus, auf internationalen Konferenzen oder im Liebeskampf auf dem Küchenherd: Fleming funktioniert wie eine Maschine. Nie vergißt er seine Fassade aufrechtzuerhalten, nicht ein einziges Mal.
Damage, so der Originaltitel, ist ein beklemmender Film. Das miese und elende Lügengeflecht von Anna und Stephen inszeniert Louis Malle trotzdem blutleer. Dieser Widerspruch zur detailversessenen Milieu-Zeichnung des Regisseurs schafft ein gewisses Unbehagen. Selten versucht er, seinen Figuren ein psychologisches Profil zu geben. Warum der gutsituierte Politiker alles riskiert (und zu schlechter Letzt auch verliert), bleibt unklar. Flemings unvermittelte Entwurzelung, der unbändige Drang nach einer gewalttätigen Sexualität, das in starren Posen zementierte Umgehen mit der betrogenen Familie bleiben äußerlich.
Verhängnis ist ein spannender Film, nur ein wenig zu lang, leider. Er ist briliant gefilmt und authentisch ausgestattet. Aber wie sollen wir einen Mann verstehen, der nach solch exessiven Bums-Erlebnissen in der Frau seiner Begierde jemand „wie jede andere“ sieht. Das erklärt Malle nicht. Lobsang Samten
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