: Vorspiel zum Tyrannenmord
Bevor es Schach-Weltmeister Kasparow ans Fell geht, müssen Jan Timman und Nigel Short im Kandidatenfinale den Herausforderer ermitteln ■ Von Stefan Löffler
El Escorial (taz) – Das Ego seiner Gegner zu zerstören, war die Maxime Bobby Fischers. Auch Garri Kasparow, Schachweltmeister außerhalb Serbien-Montenegros, liebäugelt mit dieser Auffassung. Wer wenig Freunde hat, mag diesen Grundsatz teilen. Nigel Short teilt ihn nicht. „Ich habe nie zu denen gehört, die glauben, daß man seine Gegner hassen muß“, erklärte der 27jährige Brite vor seinem Kandidatenmatch gegen den 14 Jahre älteren Jan Timman. Der Niederländer zählt zu Shorts besten Freunden. Gerade seit feststand, daß sie den Herausforderer Kasparows ausspielen sollen, wurden die beiden zu einer Schicksalsgemeinschaft.
Im April 1992 besiegten sie ihre russischen Halbfinalgegner. Artur Jusupow fiel Timman zum Opfer. Short nahm Kasparow seinen Lieblingsgegner Anatoli Karpow weg. Am größten war die Überraschung in München, wo der Schachcomputerhersteller Hegener & Glaser („Mephisto“) in leichtsinniger Überschätzung der sowjetischen Schachschule einen Werbevertrag über eine Million Schweizer Franken für einen westeuropäischen WM-Herausforderer ausgesetzt hatte. Zuerst behauptete die Firma, die in den USA gerade dreieinhalb Millionen Dollar in den Sand gesetzt hatte, die Auslobung sei längst widerrufen worden. Doch bezeugen konnte das niemand, und nun war es zu spät. Mehrere Wochen versteifte sich Hegener & Glaser auf Abwartezüge, um, als das Firmenimage schon fast ruiniert war, doch noch nachzugeben. Beide Kandidaten wurden belohnt und zu den fälligen Werbeleistungen verpflichtet. Timman und Short handelten selbst aus, daß die Million Franken im Verhältnis 5:3 zugunsten des Finalsiegers geteilt würde. „Wir hätten auch halbe-halbe gemacht, aber der Gewinner wird wohl mehr für Mephisto arbeiten müssen“, erklärte Timman den Deal.
Zur gleichen Zeit machte Kasparow den beiden das Leben schwer. Vor sechs Jahren war es König Garri selbst, der die Großmeisterunion GMA als Interessengemeinschaft der Schachprofis gegründet hatte. Solange er sie gegen den verhaßten Weltschachbund FIDE gebrauchen konnte, war Kasparow GMA-Präsident. Als die Großmeister gegen seinen Willen einer Einigung mit der FIDE zustimmten, die alle Ziele der GMA erfüllte, trat Kasparow zurück. Timman wurde neuer Präsident, vor einem halben Jahr löste Short ihn ab. Der Weltmeister setzte derweil alles daran, sein einstiges Hätschelkind zu torpedieren. Die Turniere, die die GMA organisierte, boykottierte er, denn ohne Kasparow ging die Milchmedienrechnung der GMA-Sponsoren nicht auf. Im September 1992 gründete er eine Gegenorganisation, die Internationale Schachunion CUI, deren Mitglieder fast ausschließlich aus GUS-Land kommen.
Dahinter steckt ein Ziel: Die CUI soll die GMA als Vertreterin der Spielerinteressen ablösen, denn ein Zehntel des WM-Preisfonds steht einer Organisation zu, „die die Mehrheit der Spieler repräsentiert“. Mit diesem Geld, bei der WM 1990 waren es immerhin 300.000 US-Dollar, wollen die Shorts GMA und Kasparows CUI Turniere organisieren und Sponsoren werben, um ihren Mitgliedern Einkommen zu verschaffen.
Die Ausrichtung der WM ist aber immer noch eine Hängepartie. Die Schuld daran hat Kasparow Timman und Short in die Schuhe geschoben. Die Sponsoren hätten kein Interesse, da der Sieger von vornherein feststehe, tönte Garri. Dabei war er es, der mit überzogenen Äußerungen das Preisgeld so hoch getrieben hatte, daß die Konkurrenten seiner Geschäftsfreunde in Los Angeles vorzeitig abgeschreckt wurden. Die Zerstörungen nach den Straßenschlachten im letzten April haben Los Angeles zur Absage genötigt. Heute wäre man froh, die Vier- Millionen-Dollar-Alternative aus Marokko gelte noch. Als „Schurke“ wird Kasparow von Timman bezeichnet, einen „asiatischen Despoten“ nennt ihn Short. „Wir brauchen einen neuen Weltmeister“, mahnt der Niederländer, ist sich aber mit seinem englischen Kollegen einig: Kasparow ist die Nummer eins.
Statt am Throne des Tyrannen zu sägen, müssen sich die Freunde Jan und Nigel jedoch erstmal in El Escorial bei Madrid am Brett bekriegen. In der erste Runde riskierte Short unnötig einen Bauern, doch Timman verlor in Zeitnot den Durchblick und konnte von Glück reden, daß aus dem Stellungsnebel ein Remis herausschaute. Der enorme Druck, die Verantwortung jedes einzelnen Zuges war in der zweiten Partie zu spüren. Short, gewöhnlich kein Zeitnotkandidat, hatte nach 21 Zügen schon mehr als eineinhalb seiner zwei Stunden Bedenkzeit verbraucht, obwohl er die Stellung aus einer anderen Großmeisterpartie kennen mußte. Timmans Ruf als Eröffnungsexperte hatte dem Briten eine paranoide Angst eingejagt, in eine vorbereitete Falle zu laufen. Statt im 25.Zug anzuerkennen, daß er trotz des Zugvorsprungs der weißen Steine etwas schlechter stand, stellte Short einen Springer ein und gab wenige Züge später auf. Auch im Viertelfinale gegen Boris Gelfand und im Halbfinale gegen Karpow war er gleich zu Matchbeginn in Rückstand geraten. Beide Male hat ihn die frühe Niederlage angestachelt. Bis zur 14.Partie gegen Timman ist es noch weit.
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