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Standort gesichert, Jobs nicht

Industrielle Kerne in Ostdeutschland (2): Das größte Chemiekombinat der DDR ist nur noch ein Torso/ Täglich 1,6 Millionen Mark Verlust  ■ Aus Leuna Annette Jensen

Auf der Blümchentapete prangt ein Ölgemälde mit poppigbunter Industrielandschaft. Für Sekunden erlaubt sich der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Ingo Ochmann ein sentimentales Lächeln: „Früher waren wir hier bei Leuna eine große Familie. Jeder half jedem – alles ging halt seinen sozialistischen Gang.“ Als es die DDR noch gab, verdienten 27.000 Menschen ihr Geld in dem riesigen Chemiekombinat. Heute sind es gerade noch 7.600; etwa 4.900 arbeiten in inzwischen ausgegliederten Betriebsteilen. „Jede Investition sichert den Standort, aber oft nicht die Arbeitsplätze“, beschreibt Ochmann sachlich das Dilemma. So werden beispielsweise in der neuen Wasserstoffproduktionsanlage nur noch 24 Leute gebraucht, früher waren es achtmal so viele.

Daß Leuna als Industriestandort überhaupt noch existiert, sei eine politische und keine ökonomische Entscheidung, räumt Ochmann ein. Über mangelnde Fürsorge aus Bonn will er sich gar nicht beschweren – nur die Strategie, durch Privatisierung sanieren zu wollen, sei kurzsichtig gewesen. Deutlich bemüht er sich um einen moderaten Ton, immer wieder bestätigt er seiner Geschäftsführung, das Bestmögliche herauszuholen. „Wir sitzen alle in einem Boot“, sagt der Betriebsrat. „Die Alternative hieß: entweder mit 27.000 untergehen oder mit weniger überleben“, ergänzt später Pressesprecher Werner Kisan die Havariemetapher. Und obwohl 60 Betriebsteile stillgelegt, 3.500 betriebsbedingte Kündigungen verteilt und zusätzlich zehn Männer- und fünf Frauenjahrgänge vorzeitig in den Ruhestand geschickt wurden und obwohl dieses Jahr vermutlich über 600 Millionen Mark Verlust anfallen, sagt er: „Bisher ist alles ganz gut gelaufen.“

Im Gegensatz zum wenige Kilometer entferten Buna ist Leuna schon Ende 1991 davon abgerückt, den Betrieb als Ganzes verkaufen zu wollen. Nachdem viele Betriebsteile von der Wäscherei bis zum Rohrleitungsbau ausgegliedert und privatisiert wurden, zückten dann am 23. Juli letzten Jahres die Manager eines Konsortiums ihre Federhalter zum Vertrag mit der Treuhand, der den Standort Leuna sichern soll: Die franzöische Firma Elf Aquitaine, die Thyssen Handelsunion und die deutsche SB-Kauf wollen bis 1996 für 4,3 Milliarden Mark die modernste Raffinerie Europas aufbauen. Gerade wird das Feld südlich des sieben Kilometer langen Leuna-Geländes zum letzten Mal beackert – im Sommer sollen dann Bagger und Bulldozer anrollen. Der umworbene Großinvestor hat ausgehandelt, daß die neue Anlage außerhalb des alten Kombinatsgeländes entstehen kann, wo noch keine zerbrochenen Betonfahrwege und verrotteten Rohrbündel auf rostbraunen Eisenträgern das Bild bestimmen und wo weder ausgebrannte Betonsilos noch vergessene Baumaterialien herumstehen. Geplant ist, hier mindestens 10 Millionen Tonnen Öl jährlich zu verarbeiten, doppelt soviel wie in der alten Raffinerie.

„Die alte Raffinerie, die weiter unter Verwaltung der Treuhand ist, soll bis dahin den Markt erhalten“, erklärt Kisan die Vertragsbedingungen. Mit rund einer Milliarde Mark Verlust im Jahr dürfte das in der Bilanz der Breuel-Behörde zu Buche schlagen. Obwohl die Anlage sogar relativ modern sei, rechne sie sich betriebswirtschaftlich keineswegs. Die DDR- Techniker hatten nämlich alle Verbesserungen darauf ausgerichtet, keinen Tropfen aus dem Fixum von 5 Millionen Jahrestonnen Erdöl aus der UdSSR ungenutzt zu lassen, um den steigenden Bedarf an Benzin und anderen hellen Raffinerieprodukten zu befriedigen. Neben Destillation wurden deshalb auch aufwendige chemische Verfahren angewandt. „Jetzt haben wir Anschluß an den Weltmarkt und die Technik ist nicht mehr angemessen“, erklärt Kisan.

Noch wird darüber verhandelt, wie das Rohöl künftig nach Leuna kommt. Am wahrscheinlichsten ist eine Pipeline von Rostock quer durch Mecklenburg, Brandenburg nach Sachsen-Anhalt. Dazu müßte der Hafen der Hansestadt für Riesentanker mit 100.000 bis 150.000 Tonnen Fassungsvermögen ausgebaut werden. Die mecklenburgische Landesregierung habe schon positive Signale in Richtung Leuna ausgesendet, meint der Pressesprecher. Ein bißchen zittere man nun noch vor den französischen Wahlen, weil die Elf Aquitaine ein Staatsbetrieb ist. „Aber sobald die Raffinerie aus dem Boden guckt, ist der Standort Leuna gesichert“, glaubt auch Betriebsrat Ochmann.

Inzwischen sind auch Interessenten für andere Betriebsteile vorstellig geworden. „Für nahezu alle chemischen Produkte gibt es Verhandlungspartner, manchmal sogar mehrere“, meint Kisan jovial. Bei den organischen Grundstoffen und Spezialprodukten stehe man kurz vor einem Abschluß; noch im ersten Halbjahr soll der Bereich in private Hände übergehen. Der Vertrag mit der Elf-Tochter Atochem über die Leimproduktion sei sogar schon unterschrieben, die Firma Linde will technische Gase herstellen, und auch eine Energiekooperation zwischen Leuna und der Steag über 500 Millionen für ein Gas- und Dampfturbinenwerk ist schon seit einiger Zeit unter Dach und Fach. Bei den Kunststoffen rechnet die Leuna- Geschäftsführung mit Abschlüssen „noch in diesem Jahr“ – ein Satz, der den Beschäftigten schon von 1992 vertraut ist.

„Die Interessenten zocken da natürlich heftig rum, weil sie gesehen haben, wie gut Elf bedient worden ist“, meint Peter Antoszewski von der IG-Chemie in Merseburg. Denn außer dem markterhaltenden Weiterbetrieb der alten Raffinerie durch die Treuhand bekam das Konsortium auch die Kette der Minoltankstellen als besonders lukratives Schnäppchen.

Aber Kisan wird nicht müde, Optimismus zu verbreiten. Obwohl es auch „den gestandenen Chemieunternehmen im Westen“ nicht gutgeht, sieht er doch für Leuna Marktchancen. Während zu DDR-Zeiten gut 20 Prozent in den Westen exportiert wurde, insbesondere Leime waren in der Möbelindustrie ein gefragtes Leuna- Produkt, beträgt der Verkaufsanteil nach Westdeutschland und nach Westeuropa insgesamt 30 Prozent. „Wir haben dazugewonnen“, so Kisan. Nach Osteuropa werden nur noch etwa 2 Prozent exportiert.

Im Jahr vor der Ausgliederung der Raffinerie machte Leuna einen Umsatz von 2 Milliarden. Aber noch immer fährt der Betrieb täglich ein Minus von mehr als 1,6 Millionen Mark ein – obwohl die Kosten für die früher für 60 Prozent der Verluste verantwortliche alte Raffinerie nicht mehr in die Bilanz eingehen. Der Betriebsrat rechnet mit weiteren Entlassungen.

Am Werkstor sind die Töne wesentlich weniger moderat als in den Büroetagen. Die Lage sei „beschissen“, ist man sich einig. „Wir haben die alte Regierung weggekriegt. Mal sehen, ob wir nicht auch die Kohlregierung wegkriegen“, meint ein Arbeiter kämpferisch. Er hofft auf neue Montagsdemos in Leipzig. „Am schlimmsten ist es, im Ungewissen zu hängen. Wenn man weiß, daß man entlassen wird ist das noch einfacher, als immer Angst davor zu haben“, meint die Mechanikerin Sieglinde Spieß. Der vom Meister zum Pförtner degradierte Peter Wittrien klingt schon eher resigniert: „Sehen, was die Obrigkeit sagt.“ An der Bushaltestelle halten sich drei Männer an ihren Bierdosen fest. Früher malochten auch sie in der Chemiefabrik. „Vorruhestand und entlassen – ehrlich, das ist nicht schön“, wiederholt der eine immer wieder. Mit roter Schrift steht an der Werkswand: „Wollt Ihr den totalen Kohl?“ Dahinter steigt Qualm aus grauen Kühltürmen auf.

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