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Von Plastikkrokodilen und gestellten Unfällen

■ Was hat der Tourismus mit der Kunst zu tun? Oder: das Spiel mit den unbegrenzten Möglichkeiten

„Der Katalog ist da!“ Pünktlich zur Internationalen Tourismusbörse in Berlin ist er erschienen. Ein Kunstprodukt wie so vieles auf dem touristischen Boommarkt, mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, daß selbiger nicht dem rüden Geschäft, sondern der künstlerischen Produktion Rechnung trägt. Entworfen wurde er vom Berliner „Arbeitskreis für touristische Perspektiven“ (AtP). Die jungen Künstler interessiert die Schnittstelle zwischen Tourismus und Kunst. Das Produkt entspricht von der Aufmachung her weniger einem Katalog als einem Lifestyle-Reisemagazin zwischen halbseidenem Reisebericht und PR. Nur daß die Berichte hier das Thema Tourismus verfremden, um es nach seinen Inhalten abzuklopfen. Der Katalog will: „die Wechselwirkung zwischen touristischen Strukturen und dem täglichen Leben untersuchen“.

Nichtsdestotrotz eifert er seinen hochglänzenden Vorlagen nach, nämlich in der Verschmelzung von Fiktion und Realität. Ist der Sand nun wirklich golden und die Sightseeing-Tour durchs fremdartige Spezialitätenrestaurant Realität? Egal. Im modernen Tourismus verschwimmen Fiktion und Realität ohnehin zum käuflichen Paket an fast unbegrenzten Möglichkeiten. „Das totale Erlebnis“ – ein Beitrag, den wir auf diesen Seiten aus dem Katalog abdrucken – ist längst angesagt. Der Tourist wird sich auf Dauer nicht mit Mogelpackungen von Abenteuer und Lust abspeisen lassen. Er wird satt und will mehr. Völlig gleichgültig, ob der Ruf nach dem „totalen Erlebnis, dem eindrucksvollen Unfall“ von der Association for Stratetic Accidents ein Kunstprodukt oder zielstrebiges Marketing ist, die Richtung, die Logik stimmt.

Die kreativen Potenzen des touristischen Lifestyles sind längst nicht ausgeschöpft. Da wird der Hausmann für vier Wochen zum Tarzan im bolivianischen Dschungel, der Banker wird zu Kronprinz Hassan in einer edlen Suite im Hilton von Marrakesch, und die Vegetarierin mutiert zum fleischgeilen Vamp an der karibischen Küste. Ob nun in den Phantasien der Vorfreude oder im Club Med am heißen Strand – der Tourismus produziert, verkauft und befriedigt Träume und Wünsche. Und genau diese Wunschmaschine Tourismus interessiert die fachfremden Katalogherausgeber Merle Kröger, Ed van Megen und Stefan Scheffner.

Sie geißeln weder den gnadenlosen Ausverkauf der Reisewünsche noch die ökologischen oder kulturellen Eingriffe der Tourismusindustrie, sondern sie sind fasziniert von deren kreativem Output, der touristischen Grenzüberschreitung. Zu dieser gehört die perfekte Simulation genauso wie das Rollenspiel, die austauschbare Identität. „Seitdem die Entwicklung dahin geht, daß wir immer weniger arbeiten und immer mehr Freizeit zur Verfügung haben, sind wir auf der Suche nach mehr Abenteuer – nicht nur im Ausland, sondern auch direkt um die Ecke. Wir wollen mehr und mehr Wunschvorstellungen“, sagt Ed van Megen zum Thema „Tourismus ohne Zurück“. Stimmt, doch da, wie van Megen weiß, „nur eine Situation ohne Zurück intensive Erfahrung bietet“, müssen wir mit dem unvermeidlichen Rückflugticket in der Tasche uns eben an unseren Wunschvorstellungen berauschen. Stimulation und Simulation für den gelangweilten „Freizeitmenschen“. Denn, so Stefan Scheffner, „Reisen spielt sich in erster Linie im Kopf ab und ist Projektion“.

Das Abtasten von realen Bedürfnissen und Wünschen ist in keinem Dienstleistungssektor so perfektioniert und ausgetüftelt wie im Tourismus. Dient dieser Prozeß absoluter Bedürfnisbefriedigung auch nur der schnöden Vermarktung, kreativ ist er allemal. Für Manager und Touristen gleichermaßen. Wobei die ersteren das Umfeld abstecken, an dem sich dann die Wünsche der letzteren reiben. Wie in der Kunst, wo Mäzen und etablierter Kunstbetrieb die Kunst definieren, an der sich die Kunstfreunde dann von Ausstellung zu Ausstellung erfreuen dürfen.

Die touristische Kunstwelt prägt und verwirklicht Vorstellungen, Wünsche. Ob nun in der künstlichen Hafenkulisse im tunesischen Sousse oder durch das mit den Zähnen klappernde Krokodil in Disneyworld – die gestylte Welt entspricht allemal mehr der Vorstellung vom orientalischen Tunesien oder vom gefährlichen Krokodil als die Realität. „Das echte Krokodil ist dagegen langweilig und enttäuschend“, weiß Philip Scheffner. Und mit der Vorstellung – böse gesagt: dem Klischee im Kopf – geht jeder auf Reisen.

Also ein Plädoyer fürs Klischee. Mitnichten. In den Wünschen von fremder Exotik oder dem Kitzel der Grenzsituation, sei es auch nur das imaginäre Krokodil, bricht eigenes Verdrängte durch. Unbefriedigte Sehnsüchte und Bedürfnisse werden durch die Projektion doch noch wahr. Und da diese „Entgrenzung“ Angst auslöst, läßt sie sich im organisierten Tourismus völlig gefahrlos leben.

Diese verdrängten Wünsche sind das eigentliche Thema des Katalogs. Er plädiert für die bewußte, die intensive Wahrnehmung jenseits jeglicher moralischer Appelle für die unterlassene Völkerverständigung im Tourismus, die so auch nicht zustande kommt. Und da wird letztlich der Gang ins Kino um die Ecke zur gleichen Reise wie die Fahrt zu den Galapagosinseln. Die Distanz ist nicht nur räumlich, sondern auch mental. Sie ist eine Frage des Sich-darauf-Einlassens, des intensiven Erfahrens anderer und damit eigener Realitäten. Und das kann der Ignorant in der schillernden Ferne genausowenig wie im heimischen Großstadtbiotop.

Ganz realistisch kommen Überlegungen im Katalog daher, auf europäischer Ebene einen identity- pool zu schaffen als Möglichkeit des Vortäuschens beziehungsweise Annehmens einer fremden Identität. „Dies erfordert eine völlig neue Auseinandersetzung mit Begriffen wie ,das Fremde‘ oder ,das andere‘ und könnte damit einen Weg jenseits der stereotypen Betrachtungsweisen aufzeigen“, schreibt Scheffner zum corporate identity project. Und in der Tat, versuchen Sie doch bei Ihrem nächsten Aufenthalt in Sri Lanka, nicht nur den tamilischen Longee zu tragen, sondern mit einem tamilischen Paß zu reisen. Ihre Wahrnehmung wird garantiert erweitert. Man sieht nur, was man weiß, sich vorstellt oder hautnah erfährt.

Künstler beziehungsweise Lebenskünstler aller Länder vereinigt Euch und schafft den Tourismus nicht ab, sondern perfektioniert sein Spiel mit den Möglichkeiten in der Alltäglichkeit. Nicht als Schein, sondern als Sein. Daß sich dann alle in der künstlichen Ferienwelt vor der Haustür wiederfinden, um auf der Wasserrutsche intensiven Wasserspaß zu erleben, ist eher unwahrscheinlich. Die massenhafte Begrenzung der Möglichkeiten dort ist so augenfällig, daß sie geradezu nach Entgrenzung schreit und neue Wünsche hervorbringt. Und sei es auch nur der Last-minute-Flug auf die sonnigen Kanaren. Edith Kresta

Der „Arbeitskreis für touristische Perspektiven“ ist auf der ITB Halle 11.1., Stand 27 zu finden.

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