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Stalin, Stalin, Stalin, Stalin

■ Vierteiler: Hartmut Kaminskis Großversuch, die Stalinzeit zu dokumentieren

„Männer machen Geschichte!“ – die These des großdeutschen Historikers Treitschke ist zwar unsinnig, kommt aber den Bedürfnissen eines Publikums entgegen, das die historischen Dramen am liebsten als Kampf der Titanen konsumieren will. Anläßlich des vierzigsten Todestages Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilis wäre eigentlich der Jahrhundert-Fight Stalin gegen Hitler im Fernsehen angesagt gewesen. Dies um so mehr, als mit Allan Bullocks „Parallele Leben“ bereits eine gediegene Grundlage für den Vergleich der beiden Bösewichter geliefert worden ist. Es spricht für Hartmut Kaminski, den mehrfach preisgekrönten Zeitgeschichts-Dokumentaristen, daß er sich diesem Erwartungsdruck verweigerte. Sein Vierteiler „Stalin“ behandelt weniger die überragende Persönlichkeit Stalin als vielmehr das „stalinsche Phänomen“. Er häuft in fast vier Stunden Material auf, das uns in die Lage versetzen soll, die Handlungen des Tyrannen aus den Grundkoordinaten der russischen Geschichte und aus den konkreten Zeitumständen der 20er und 30erJahre heraus „zu verstehen“.

Für diese Aufgabe kam Kaminski ein Glücksfall zur Hilfe. Während seiner Recherchen in der zerfallenden Sowjetunion und dem wiedererstehenden, aber noch nicht gefestigten Rußland traf er auf eine tief verunsicherte, aus der Bahn geworfene Geschichtswissenschaft. Es war die Zeit der Umwertung aller Werte, ungehemmter wissenschaftlicher Leidenschaften und – geöffneter Archive. Kaminski nutzte den Vertrauensvorschuß, der ihm entgegengebracht wurde und sparte nicht an Devisen. So gelangen ihm eine Reihe sensationeller Funde – Dokumente und Filmmaterialien, von deren Existenz weder die sowjetische Historikerzunft noch der KGB die geringste Ahnung hatten. Mittlerweile neigt sich diese Periode ihrem Ende zu. Die zentrale Ordnung triumphiert wieder und sorgt dafür, daß den Archivmäusen etwas zu knabbern bleibt.

Hartmut Kaminski hat sein Material chronologisch um die Komplexe Revolution/Bürgerkrieg – Industrialisierung – großer Terror – Supermacht Sowjetunion angeordnet. Die Geschichtserzählung wird eingerahmt durch Kommentare des pensionierten Generals, Archiv-Generaldirektors und Jelzin- Militärberaters Dimitri Wolkogonow, des Verfassers der gewichtigen Studie „Stalin – Triumph und Tragödie“. Wolkogonow hat sich allzugründlich vom Saulus zum Paulus gewandelt. Sehr zum Schaden von Kaminskis Unternehmen wiederholt er die Parolen der Großreinemacher und übertrifft dabei noch die Exzesse westlicher Totalitarismusforschung. Nach ihm ist das Stalinsche Terrorsystem bereits vollständig durch Lenin vorgeprägt, ja vorweggenommen. Er ergeht sich in einem abstrakten Freiheitspathos und blockiert damit die Aufgabe, die tatsächlich mögliche historische Alternative zum Sozialismus Stalinscher Prägung aufzuspüren.

Indem die Ursachen des sowjetischen Totalitarismus nur in der Doktrin der Bolschewiki und in dem Sowjetstaat, wie er sich nach dem Grauen des Bürgerkriegs herausbildete, gesehen werden, wird der Blick versperrt für die Krise des Systems zu Ende der 20er Jahre und für den „Lösungsweg“ der Stalinisten: den sozialen Massenterror. Gerade zu diesem Thema aber hat Kaminski einzigartiges Bildmaterial beizusteuern. Wir werden Zeugen der verzweifelten Widerstandsversuch der Bauern gegen die Zwangskollektivierung, wir erleben den ausweglosen Kreislauf von Zwangsrequirierungen, Vernichtung von Vieh und Saatgut durch die Bauern, von Terror und Gegenterror. Wir sehen, schreckliche Vorahnung der späteren Massendeportationen, wie verhaftete Bauern in die Güterwaggons gestoßen werden, „ab nach Sibirien, um Eisbären zu hüten“, Aber auch die Kehrseite des sozialen Massenterors wird überzeugend dokumentiert: der ungeheure Enthusiasmus der jungen Kommunisten während des ersten Planjahrfünfts, beim Aufbau der sibirischen Großprojekte. Hier ist Kaminski ein phantastischer Fund geglückt, ein unterdrückter Filmbericht über das Leben in einer Bergwerks-Komunalka, wo der utopische Wunsch nach Lebensgemeinschaft jenseits von Familie, Haus und Herd in der Praxis nur auf die Gleichheit des Elends und allgegenwärtige, soziale Kontrolle hinausläuft. Kaminski unterliegt allerdings ständig der Gefahr, die Bedeutung der von ihm entdeckten Materialien zunichte zu machen. Indem er ständig alles erklären und einordnen will, nimmt er den Bildern ihre Wirkung. Zuviel Sprache, zuviel Belehrung, zuwenig Vertrauen in die optische Suggestion. Christian Semler

Vierteiler „Stalin“ in Südwest 3, ab 7.3., 17.15 Uhr; Bayern 3, 13.3., 21.20 Uhr; Hessen 3, 19.3., 20 Uhr; West 3, 20.3., 22 Uhr; MDR 3, 18.4., 23 Uhr; N3, 2.5., 21.15 Uhr; bei Arte seit 23.2., dienstags, 19.30 Uhr

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