: Scherbenkitten in den großen Städten
■ Völlig neue Konstellationen nach den hessischen Kommunalwahlen/ In den Großstädten eklatante Einbrüche der Sozis/ Grüne vielfach „Zunge an der Waage“
Frankfurt/Main (taz) – Die eklatante Niederlage der SPD bei den hessischen Kommunalwahlen hat vor allem in den Großstädten einen Scherbenhaufen hinterlassen: Der Wiesbadener Oberbürgermeister Achim Exner, der Sonnyboy der hessischen Sozis, hat sein Lausbubenlächeln am Wahlabend an der Rathausgarderobe abgegeben (-15,8 Prozent) und seine Abwahl angekündigt. Der als arrogant geltende Oberbürgermeister von Kassel, Wolfram Bremeier (SPD), kündigte nach den hessenweit eklatantesten Stimmenverlusten (-20,7 Prozent) für die SPD ebenfalls an, das Handtuch zu werfen. In Hanau ist es für den vor der Wahl noch als „beliebt“ eingeschätzten Oberbürgermeister Hans Martin auch kein Trost, daß neben der SPD (-16,1 Prozent) auch die CDU ordentlich gerupft wurde (-6,8 Prozent). Und in Offenbach hat die große Koalition aus SPD und CDU mit zusammen 55,8 Prozent gerade mal eben die absolute Mehrheit retten können. Die „Republikaner“ haben in der Lederstadt mit ihren sozialen Problemzonen ihr landesweit bestes Großstadtergebnis erzielt: 15,1 Prozent für die Braunen.
Das „Debakel“ (Hans Eichel) für die Sozialdemokraten ist umfassend: Gießen minus 11,6 Prozent, Wetzlar minus 10,7 Prozent... Absolute Mehrheiten haben die Sozis nur noch in zwei nordhessischen Landkreisen retten können. Und dort, wo sie — wie etwa in Frankfurt — in der Regierungsverantwortung bleiben können, müssen sie dankbar vor den Grünen in die Knie gehen, die bei den Wahlen erheblich zugelegt haben.
Die Grünen haben, wie etwa in Darmstadt (25,4 Prozent), vielfach volksparteimäßig abgesahnt. Jetzt ringen dort drei etwa gleichstarke Parteien – SPD, CDU und Grüne – um die Macht. Und weil der rechtslastige Darmstädter SPD-Oberbürgermeister und „Grünfresser“ Günter Metzger auf eine Wiederwahl verzichtet hat, ist auch eine rot-grüne Koalition machbar geworden. Für die alte SPD/FDP- Koalition gab's von den BürgerInnen gerade noch mal schlappe 42 Prozent (7,8 Prozent für die FDP).
Im traditionell rot eingefärbten Landkreis Groß-Gerau mit der Arbeitermetropole Rüsselsheim haben die Grünen die SPD-Hochburg gesprengt. Auch dort müssen sich die Sozialdemokraten entscheiden: große Koalition – oder mit den selbstbewußter gewordenen Grünen die Macht teilen. Diese konnten kräftig zulegen (15,1 Prozent), obwohl noch zwei Listen aus dem grün-alternativen Spektrum gleichfalls den Sprung ins Stadtparlament schafften. Jetzt muß der von den Grünen als „selbstherrlich“ apostrophierte Winterstein (SPD) um den OB- Sessel zittern, denn die CDU hat mit der Ex-Frauenstaatssekretärin des Landes, Otti Geschka, eine auch für viele Sympathisanten der Grünen wählbare Alternative für die erste OB-Direktwahl noch in diesem Jahr aufgeboten. Die Reps sind in Rüsselsheim nicht angetreten. Aber auf Kreisebene haben die Braunen auf Anhieb den Einzug in den Kreistag feiern dürfen – am Wahlabend unter Polizeischutz.
In Hessen wird es in diesem Jahr noch mindestens 78 Direktwahlen von Oberbürgermeistern, Bürgermeistern und Landräten geben. Diese Direktwahl ist die Folge einer neuen Gemeindeordnung, die am 1. Mai in Kraft tritt. Die Suche nach regierungsfähigen Mehrheiten jenseits einer Beteiligung der „Republikaner“ wird sich dabei noch delikater und mühsamer gestalten, als schon die Wahlergebnisse befürchten ließen. Die Grünen, vielerorts die „Zunge an der Waage“, wollen – wo immer machbar – Bündnisse schmieden. In Kassel, so Reinhold Weist, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im Landtag, sei auch eine „schwarze Ampel“ denkbar. kpk
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