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Scheibengericht: Jules Massenet / Frank Black / Verschiedenes

Jules Massenet

Chérubin

Mit Frederica von Stade, Samuel Ramey, Münchener Rundfunkorchester und Chor der Bayerischen Staatsoper, Pinchas Steinberg

RCA/BMG Ariola 09026-60593-2 (2 CDs)

„Chérubin“ schreibt Beaumarchais' Drama und Mozarts Oper fort. In „Figaro“ wußte Cherubino noch nicht, was Liebe ist, und verschaffte dieser Unerfahrenheit in anmutigsten Cavatinen Ausdruck. In Massenets Oper ist Chérubin ein bißchen weiter – siebzehn, volljährig, Absolvent eines Kadettenlehrgangs und bereits ein Virtuose der Verführung: Er bringt es fertig, drei verschiedene Frauen mit ein und demselben Ständchen zu ködern, was zu einigen Verwicklungen führt. Anders als bei Mozart spielt musikalisch auch das spanische Lokalkolorit eine Rolle. Chérubin verliebt sich in die Tänzerin Ensolleilad – am Ende aber erringt die etwas biedere und fromme Nina, die ein bißchen an Michaela aus „Carmen“ erinnert, den Sieg über Cherubins Herz. Das ist nun eher ernüchternd.

Aber so ist es wohl, wenn man der Versuchung erliegt zu erzählen, wie es mit Cherubino weitergehen könnte. Das wunderbare an Mozarts Cherubino ist ja gerade, daß darin das Flüchtige, der Übergang vom einen Alter ins andere, festgehalten ist. Bei Massenet wird das Flüchtige fest, und das bricht den Zauber. Zwar ist Chérubin noch eine Hosenrolle – die von Frederica von Stade schön gesungen wird –, aber charakterlich schon ein kleiner Don Giovanni, der sich mit Nina wahrscheinlich nur vorläufig abgeben wird.

In Massenets „Chérubin“, der 1903 uraufgeführt wurde, spiegelt das eine fin de siècle das andere, ein bißchen wie im „Rosenkavalier“, nur nicht so raffiniert und dekadent in den Mitteln. Massenets Musik ist zuckrig, selten dringt sie zu wirklicher Melancholie vor. Pinchas Steinberg scheint eine Vorliebe für Musik aus dieser Zeit zu haben. Vor drei Jahren veröffentlichte er eine Einspielung von Alfredo Catalanis „La Wally“. Aber „La Wally“ ist das Meisterwerk eines viel zu jung verstorbenen Genies – „Chérubin“ ist nur die siebzehnte Oper eines routinierten Meisters.

Frank Black

s/t

4 AD/Rough Trade

Klingt wie die Pixies. Ist auch kein Wunder, denn Frank Black ist Black Francis, Ex-Chef der leider aufgelösten Gruppe. In Wirlichkeit heißt er Charles Thompson. Die Platte sei „eine Abkehr von einem unverkennbaren Bandsound“, berichtet Spex. Ich finde, das stimmt nicht. Erstens spielt Joey Santiago Gitarre, und zweitens ist es nach wie vor dieses gleiche komische Durcheinander, diese Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem, von laut und leise, nah und fern, verzerrten Gitarren und süßem Singsang.

Auf dem ersten Stück beginnt Frank Black als eine Art Billy Bragg mit schlecht gestimmter Wanderklampfe, dann rumst es ganz fürchterlich in den Kopfhörern und Frank Black bekennt, nun sehr Heavy-metal-artig: „I wanna live in Los Angeles!“ Black schreit ja manchmal gerne, kann das auch sehr gut, fährt dann aber fort wie ein zugekifftes Blumenkind und säuselt etwas über die Vorzüge von Southern California. Irgendwie weiß man nie, ob er meint, was er singt.

Verschiedene

The Complete Stax/Volt Singles 1959-68

WEA International/Tis 782218-2 (9 CDs)

Eine Soulsingle kulminiert in der Ausblendung, im endlosen Ende, dem Reich der Freiheit. Die Ausblendung ist nicht wie in vieler anderer Popmusik der Moment der Indifferenz oder gar formaler Verlegenheit – wie soll ich eine Musik beenden, die aus repetitiven Mustern besteht? In der Soulmusik ist sie das Ziel, auf das alle Kräfte von vornherein hinsteuern. Die meisten Rhythm-and-Blues- und Rock-'n'-Roll-Stücke der späten fünfziger Jahre hatten noch einen „richtigen“ Schluß, erst die Soulsingle kultivierte die Ausblendung als formale Klimax. Sie schuf einen Kaufanreiz: In dem Moment, wo die Single den reserviertesten Hörer mitriß, wo er mittanzen wollte, verschwand sie ins Nichts. Wer das im Radio hörte, wollte die Single haben, um diesen Moment, in dem sich etwas anzudeuten schien, immer und immer wieder zu wiederholen.

Abby beschreibt in Nicholson Bakers Roman „Vox“ den Effekt einer gutgemachten Ausblendung: „Manchmal drehte ich den Regler mit genau der gleichen Geschwindigkeit hoch, mit der er – ich meine die Geisterhand des Produzenten – ihn herunterdrehte, so daß der Ton gleich laut blieb... Dann würde der Song nie aufhören, er würde einfach unendlich weitergehen. Und so wurde das, was ich zuvor einfach für eine Art künstlerische Schlampigkeit gehalten hatte, für einen Versuch anzudeuten: oh yeah, wir sind ein Haufen endlos kreativer Jungs, die die ganze Nacht durchjammen, und der böse blöde Plattenproduzent muß dann eben doch die Lautstärke runterdrehen, damit wir nicht die ganze Platte mit einem Monstersong füllen – all das wurde für mich zu einer Art Summe der Hoffnung.“

Diese Erfahrung, eine Mischung aus Euphorie und Enttäuschung, kann Abby natürlich nur machen, weil sie die Platte gekauft hat. Im Radio würde die Ausblendung gar nicht ausgespielt, denn dort dient sie der Überblendung in ein anderes Stück und damit dem Interesse des DJs, einen kontinuierlichen Musikteppich zu legen. Je besser die Ausblendung, desto schnöder aber wird der sensible Konsument das Übereinanderlegen der Musikstücke finden.

Die Interpretation, die Abby der Ausblendung gibt, ist wahrscheinlich typisch für die achtziger und neunziger Jahre. Sie hört darin nur das Ankämpfen der Musiker gegens Vergessenwerden, als wäre der Single in der Ausblendung schon „der Beliebtheitsschwund in den Charts, die Karrieredämmerung der Sängerin“ eingeschrieben. In der Soulmusik der sechziger Jahre hatte die Ausblendung andere, und zwar politische Implikationen.

Dabei ist keines der Lieder in dieser Edition sämtlicher Stax-Singles bis 1968 explizit politisch zu verstehen. Es handelt sich fast ausschließlich um Liebeslieder. Aber die Situation des Sängers ist eine grundsätzlich andere als zum Beispiel im klassischen Blues, der Klage ist. Zweimal ruft der Sänger im Blues, aber dem Ruf folgt kein Echo, er selbst resümiert im letzten Viertakter des zwölftaktigen Schemas: Die Geliebte hat ihn verlassen. Was ihm bleibt, ist die Gitarre, das Klavier oder auch das Akkordeon, mit dem er dann noch einmal ausdrückt, was er eben schon sagte: Er ist allein allein allein. Die Instrumente der Begleitung antworten weniger, als daß sie bestätigen. Immer anders sagen sie immer dasselbe. Es ist ein Kreisen, eine geschlossene Struktur – und wenn dieses Kreisen eine Richtung hat, dann abwärts. Die Blue note ist die Mollterz, die die Durterz bricht.

Im Soul wurden dann Kreuze vorgezeichnet. Darum war Otis Redding bei den Begleitmusikern des Stax-Labels so gefürchtet. Saxophonist Floyd Newman berichtet im Beiheft: „Es gab nicht viele Worte auf Otis' Aufnahmen, aber eine Menge Bläsersätze. Bei James Brown war es genauso, aber Otis' Bläsersätze waren ganz anders, schwieriger, sowohl rhythmisch als auch harmonisch. Otis setzte sie in Tonarten wie E, A und Fis, in denen sonst niemand spielte. Die Kreuztonarten sind brillant, aber niemand gab sich damals damit ab. Sie verliehen den Stücken eine Menge Kraft und Drive.“

Der Soul hat eine Tendenz nach oben. Die teilt er mit dem Gospel, den er säkularisierte und der zum Himmel blickt wie der Blues zur Erde. Gemein hat er mit dem Gospel auch die dialogische Struktur des Call and Response. Der Soulsänger spricht nicht über seine Geliebte, sondern mit ihr. Nicht selten sind im Soul Duos und Gesangsgruppen. Wenn der Sänger allein ist, antworten die Bläser. Die Harmonik ist weniger differenziert als im Blues. Eine Soulsingle hat zweieinhalb Minuten Zeit, in der sie zweimal durch Strophe und Refrain läuft, um sich dann in jene Phase der Entfesselung zu steigern, die nicht zu beenden, sondern nur auszublenden ist.

Es ist eine Ausblendung in ein Jenseits, das diesseitig ist, gesellschaftlich. Die Antwort im Call and Response ist letztlich, wie im Gospel, immer eine gemeinschaftliche, auch wenn der Sänger scheinbar nur ein Liebeslied singt. Der Sänger treibt die Gruppe und die Gruppe den Sänger. Dabei sind diese zehn, zwanzig, höchstens dreißig Sekunden der Losgelassenheit, bevor das Stück ausgeblendet wird, immer noch strukturiert, nicht chaotisch wie bestimmte Momente im Free Jazz. Die Gruppe setzt den Rahmen, von dem sich der Sänger absetzt und der ihn dennoch aufnimmt. Es ist ein Moment der Euphorie, eine Feier der Spannung, die fruchtbar ist, nicht zerstörerisch. Der Sänger sprengt den Rahmen weniger, als daß er ihn durch die Kraft seiner Rufe, Appelle und Forderungen weitet – und dieser öffnet sich für ein wahres Bild von Gesellschaft. Darum ist die Ausblendung im Soul tatsächlich „Summe der Hoffnung“ – auf Crossover und Integration.

Natürlich wirbt das „Du“ im Soul, wie in allem Pop, ums Publikum, das die Platte kaufen soll. Politisch wird ein Lied wie Otis Reddings „Respect“ nur, weil sich die Forderung verallgemeinern läßt und weil ein schwarzer Sänger auf ein weißes Publikum zielt. Auch das Crossover ist zunächst eine kommerzielle Strategie: Interessant wurden die Einnahmen, wenn ein Song in die Popcharts, und nicht nur in die schwarzen R&B- Charts vordrang. Aber Stax war ein kleines Label. Die Musiker mußten mit ihren eigenen Mitteln arbeiten. Das Crossover wurde nicht wie beim industriellen Motown-Label durch vorauseilende Konzessionen an den Publikumsgeschmack erreicht. Dort betteten Hall und Streicherarrangements die Stimmen ein, bevor sie heraustreten konnten.

Soul, wie er bei Stax oder auch Atlantic gemacht wurde, war gewissermaßen die Musik zur Bürgerrechtsbewegung. Sowenig wie diese war er einfach schwarz. Zwar waren alle Stars bei Stax Schwarze, aber die ständige Begleitband des Labels, Booker T. And the MG's, bestand zur Hälfte aus weißen Musikern. Schwarze und weiße Musiker arbeiteten gleichberechtigt zusammen. Otis Redding schrieb fast alle seine Hits zusammen mit Steve Cropper, dem weißen Gitarristen von Booker T. Etwas wie Integration, wie sie sich in der Musik ankündigt, war bei Stax schon verwirklicht. Allerdings war sie nicht unproblematisch: Stax hatte, wie Atlantic und anders als Motown, weiße Besitzer. Der Betrieb funktionierte nach dem alten Modell: „black workers, white owners“. 1965 holten Jim Stewart und Estelle Axton, die Gründer, mit Al Bell einen schwarzen Vizepräsidenten. Firmensitz von Stax war ein ausrangiertes Kino im Schwarzenviertel von Memphis, Tennessee. Dort befanden sich das Studio und ein Plattenladen, in dem eigene und Fremdprodukte verkauft wurden. Es fragt sich, ob ein Label wie Stax 1959 in Memphis überhaupt von einem Schwarzen hätte gegründet werden können. Jerry Wexler, Chef des in New York residierenden Atlantic-Labels, erzählt im Beiheft, wie er Jim Stewart 1961 in Memphis besuchte: Die schwarzen Stax-Stars mußten durch den Lieferanteneingang in sein Hotel geschleust werden. Es war die Zeit der Rassentrennung.

Nicht zufällig umfaßt die in Deutschland bei East West Tis vertriebene Stax-Singles-Edition nur die Jahre 1959 bis 68, obwohl das Label bis weit in die siebziger Jahre aktiv war. Der Mord an Martin Luther King – in Memphis, Tennessee – änderte auch bei Stax alles. Isaac Hayes, Songwriter bei Stax, „konnte ein Jahr lang keine Note mehr schreiben“. „The climate had changed“, berichtet Steve Guralnick in seinem Standardwerk „Sweet Soul Music“. Noch im selben Jahr kam der größte Star des Labels, Otis Redding, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Stax ging in den Besitz des Atlantic-Labels über, das seinerseits von den Warner Brothers gekauft worden war.

Vor allem war der unpolitisch- politische Optimismus der Musik, ihre Öffnung in einen Tanz der einen mit den anderen, obsolet geworden. Die Hoffnung auf Integration war zerstoben. Zwar gab es auch nach '68 noch guten Soul, aber Soul wurde Pop. Die Ausblendung führte in Karrieredämmerung und Indifferenz.

Man kann die über zweihundert Singles dieser Edition auf neun CDs blind durchhören und wird in Erfahrung bringen, was man vorher schon wußte: Otis Redding war der King of Soul. „Try a Little Tenderness“ ist die schönste Soulsingle überhaupt. Dann kamen Sam & Dave, Carla und Rufus Thomas, Eddie Floyd, William Bell, Mable John, die Instrumentals von Booker T. And the MG's und die Bar- Kays. Man wird auch entdecken, daß es selbst bei Stax eine ganze Menge banaler Musik gab. Und dann wird man zum ersten Mal die Stimme von Ruby Johnson hören.

Wer ist Ruby Johnson? Am ehesten wohl eine Buessängerin. Sie hat drei Singles für Stax aufgenommen, danach verschwand sie wieder in der Versenkung. Keines ihrer Lieder hatte Erfolg, vielleicht weil sie so tieftodtraurig waren. „When my Love Comes down“ ist die B-Seite ihrer zweiten Single. Sie wurde trotzdem in diese Sammlung von A-Seiten aufgenommen – alles andere wäre historisches Unrecht gewesen. Isaac Hayes hat das Stück geschrieben. Booker T.'S Hammondorgel legt den Hintergrund, Steve Cropper setzt scharfe Gitarrenakzente dagegen, Johnsons Stimme birst, taucht unter in übermächtigen Bläserakkorden, überstrahlt sie dann wieder und wird am Schluß abrupt zum Verstummen gebracht. Es ist weniger ein Liebeslied als eine verzweifelte Liebeserklärung und gipfelt in der damals wenig zeitgemäßen Zeile: „I don't ever – no no never – be free“. Niederschmetternd. Allein für diese B-Seite lohnt sich der Besitz von über zweihundert A-Seiten.

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