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"Ich bin kein Moralist"

■ Mit Günter Grass sprach Anne Huffschmid über Einheit, SPD, Asyl und Traumkandidaten fürs höchste Amt im Staate

Während die Kritik sich bereits auf den neuesten Grass („Novemberland“) gefaßt macht, der – nach dem Vorabdruck zu urteilen – die deutschen Ungereimtheiten in Sonettform zu bannen versucht („Skin“ reimt sich da auf „Lustgewinn“), weilt der Autor in Mexiko, um die Übersetzung seiner „Unkenrufe“ zu präsentieren. Dort traf ihn unsere Mitarbeiterin Anne Huffschmid am 22.3. und entlockte ihm die folgenden Sätze zur Lage; die aufmerksame LeserIn wird hier ein treffliches Beispiel dessen finden, was Karl Heinz Bohrer in der taz vom 20.März als den deutschen „Ernst-Diskurs“ beschrieben hat. jl

taz: Sie galten in den letzten Jahren als so eine Art Spielverderber der deutschen Vereinigung. Haben Sie heute das Gefühl, recht behalten zu haben?

Günter Grass: Anfangs waren die Reaktionen auf meine Warnungen regelrecht aggressiv. Nun hat sich ein Teil davon bewahrheitet, zum Beispiel die Warnung vor den Folgen der Währungsunion, und zum Teil schlimmer, als ich es vorausgesehen hatte. Die aggressiven Kritiker sind stumm geworden, aber das heißt nicht, daß sie etwas eingesehen haben. Das Geschenk einer möglichen deutschen Einigung haben wir regelrecht verschleudert. Die Mauer ist zwar weg, aber wir haben eine neue Teilung – in Deutsche erster und zweiter Klasse. Schlimmer noch ist allerdings diese Respektlosigkeit der Westdeutschen gegenüber den Ostdeutschen. Diese vierzig Jahre gelebtes Leben in der DDR, die sicher kein Honigschlecken waren, muß man doch respektieren. Man kann da nicht einfach aus westlicher Sicht drüber hinweggehen und auftreten wie eine Kolonialmacht – und das ist leider geschehen. Wenn man in solchen Prognosen recht behält, kann man kein Triumphgefühl verspüren. Ich wäre lieber durch die Wirklichkeit eines Besseren belehrt worden.

Haben denn die Deutschen inzwischen so etwas wie einen Anspruch auf Normalisierung? Hans Magnus Enzensberger meint ja zum Beispiel, daß die Deutschen „nicht immer Weltmeister im Gut- Sein“ sein müssen.

Ich bin da ganz anderer Meinung als Hans Magnus Enzensberger. Ich glaube, daß ein Verbrechen wie Auschwitz mit all seinen Folgen nicht einfach nach einer bestimmten Jahresfrist abgelaufen ist. So etwas verjährt nicht. Das heißt nicht, daß man dauernd in Sack und Asche und schuldbewußt rumlaufen müßte, aber man muß sich dieser Vergangenheit bewußt sein.

Glauben Sie denn eigentlich, daß es in Deutschland so etwas wie eine demokratische Mehrheit gibt, auf die man im Ernstfall rechnen kann?

Das weiß ich bis jetzt noch nicht. Wir haben bis jetzt in Deutschland eine Schönwetter-Demokratie gehabt, und wir erleben jetzt zum ersten Mal eine anhaltende wirtschaftliche Krise, die noch verstärkt wird durch die Mißwirtschaft der gegenwärtigen Regierung: große Verschuldung und zum ersten Mal so Worte wie Währungsreform, also DM-Abwertung. Das kann in einem Land, das in diesem Jahrhundert Inflation erlebt hat, den rechten Gruppierungen Auftrieb geben. Und die Reaktion der demokratischen Parteien auf die „Republikaner“ ist schwach gewesen, geprägt von Anpassungen an den „republikanischen“ Kurs. Ich glaube allerdings, daß die Mehrheit der Bevölkerung demokratischer ist als ein Teil der Politiker, die das Sagen haben. Wir haben das ja erlebt, bei den rassistischen Anschlägen, daß die Regierungsleute sich bedeckt hielten und die Menschen in vielen deutschen Großstädten auf die Straße gingen. Und bayerische Politiker haben sich geweigert, an solchen Veranstaltungen teilzunehmen. Das alles ist ein Anzeichen dafür, daß die Bevölkerung der Bundesrepublik politisch reifer ist als die führende politische Klasse in der BRD, leider inklusive der SPD.

Ihr Austritt aus der SPD letztes Jahr, war das ein Zeichen von Resignation – ausgerechnet in Zeiten, in denen die Sozialdemokratie ja in Teilen der Welt wieder Hoffnungsträger zu werden scheint?

Mein Austritt aus der SPD ist mir nicht leichtgefallen. Ich bleibe von meinem politischen Verständnis her ein demokratischer Sozialist. Aber um das auszudrücken, bin ich nicht auf die SPD als Partei angewiesen. Nach wie vor ist es meine Vorstellung, daß man über Reformen auf unblutige Art und Weise einen sozialen Ausgleich schaffen muß und kann. Daß aber die SPD sich gegenwärtig, zum Beispiel in der Asylfrage, von ihrer eigentlichen Tradition entfernt und dort auf den CDU/CSU-Kurs eingeschwenkt ist, hat mich dann dazu gebracht, auszutreten.

Überhaupt sind Sie ja als Moralist verschrien. Aber vielleicht ist das für Sie gar nichts Schlimmes...

(lacht) Für mich ist das kein Schimpfwort. Ich würde mich selbst nie als Moralisten bezeichnen, aber ich habe schon bestimmte moralische Vorstellungen von Politik. Wenn ich zum Beispiel gegen Zensur bin, bin ich das in einem umfänglichen Sinne. Es ist sehr leicht, gegen Zensur zu sein, in kommunistischen oder faschistischen Ländern, wo Zensur zur Staatsräson gehört, aber es gibt natürlich auch in den freien Ländern über den Markt eine gewisse Zensur. Oder es gibt neuerdings eine Zensur durch religiöse Intoleranz: ein Beispiel ist mein Schriftstellerkollege Salman Rushdie, der seit vier Jahren durch das Todesurteil bedroht ist. Und da ist es für mich auch eine moralische Frage, in diesem Fall Solidarität zu üben. Es gibt Anlässe genug, einen moralischen Maßstab anzulegen, ohne daß man dadurch zum Moralisten wird. Die Menschen, die das als Schimpfwort benutzen, sind in der Regel genau die Leute, die es auch zu bekämpfen gilt, die im Zweifelsfall dann doch für Zensur sind oder für das bloße wirtschaftliche Interesse.

Würden Sie denn sagen, daß Moral gegenwärtig eine Art Mangelerscheinung unter den Intellektuellen darstellt? So würde sich ja zum Beispiel ein Kollege wie Hans Magnus Enzensberger streng gegen eine moralische Argumentation verwehren.

Was Hans Magnus Enzensberger betrifft, so hat er Ende der sechziger Jahre durchaus moralische Positionen vertreten, an die er sich heute ungern erinnert – das ist aber sein Problem. Ich bin eher dafür, daß man die Literatur nicht degradiert zu einem bloßen Instrument zur Verbreitung von dieser oder jener Moral. Die Literatur hat mit vielen Wahrheiten zu tun, Wahrheiten, die im Widerspruch zueinander stehen und die einander tolerieren müssen. Dennoch glaube ich, daß die Aufgabe des moralischen Anspruches auch die Aufgabe der menschlichen Existenz ist, denn dann haben wir kein Recht mehr, uns als etwas Besonderes zu verstehen. Dann sind wir bereit, in eine technisierte Barbarei zurückzufallen. Und es gibt Anzeichen dafür, daß wir auf diesem Weg sind.

Was halten Sie von der Idee, gerüchteweise gehandelt in Deutschland, einen Schriftsteller oder Intellektuellen zum Bundespräsidenten zu machen? Botho Strauss war genannt worden, Enzensberger oder auch Sie selbst...

(lacht) Ist mir ganz neu. Aber ich halte nicht viel davon, jetzt unbedingt einen Schriftsteller zum Präsidenten zu machen – und wenn, dann müßte es der Philosoph Habermas sein. Ich habe von mir aus einen Vorschlag gemacht, und zwar eine Frau und eine aus Ostdeutschland: Regine Hildebrandt. Eine sperrige Frau, die den Mund aufmacht, die nicht telegen ist – oder aber auf eine überraschende Art und Weise. Aber ich fürchte, das wird wenig Chancen haben.

Die „Unkenrufe“, die Sie gegenwärtig in Mexiko vorstellen, erzählen ja so eine Art deutsch- polnisches Märchen. Wie sehen Sie im Moment dieses Land, mit dem Sie ja eine große Zärtlichkeit zu verbinden scheint?

Die Lage in Polen ist sehr widerspruchsvoll und schwierig. Aber es ist erstaunlich, wie behutsam die Polen mit dem großen industriellen Komplex umgehen, um keine Massenarbeitslosigkeit herzustellen. Sie werden eigentlich mit den Problemen besser fertig als die Deutschen, obwohl die Deutschen so reich sind. Und es gibt selbst vor dem politischen Gegner einen gewissen Respekt...

Im Gegensatz zu Deutschland?

Ja sicherlich. In Polen zum Beispiel wäre niemand auf die Idee gekommen, die Stasi-Akten öffentlich zu machen, wie das in Deutschland der Fall war. Da kommt so ein protestantischer Puritanismus durch, der in Polen undenkbar wäre. Auf der anderen Seite gibt es natürlich in Polen, nachdem die Herrschaft der kommunistischen Partei vorbei war, die Gefahr, daß die Herrschaft der katholischen Kirche einsetzt. Da gibt es erste Anzeichen, aber auch schon erste Widerstände. Schwierig wird leider wieder das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen. Nachdem der Innenminister Seiters nun die Polen offenbar dazu gebracht hat, die Beschlüsse des neuen deutschen Asylparagraphen auszuführen, das heißt, die aus Deutschland zurückgeschickten Asylsuchenden weiter in andere Länder zu schicken, wird Polen gezwungen sein, an der Ostgrenze eine Art neuen eisernen Vorhang aufzuziehen. Das ist für Polen eine fatale Situation, denn Polen wird in der Zukunft wirtschaftlich nur reüssieren können, wenn dieses Land eng zusammenarbeitet mit der Ukraine, mit Litauen, und das wird dadurch unmöglich gemacht. Denn die westliche Hilfe kommt nicht für Polen, Polen muß sich selbst helfen und wird angewiesen sein auf seine östlichen Nachbarn.

Einer dieser Nachbarn ist ja das ehemalige Jugoslawien – kommt der Terror in diesen Ländern für Sie eigentlich überraschend?

Überhaupt nicht. Der Zerfall Jugoslawiens beginnt unmittelbar nach dem Tod von Tito, das ist zehn Jahre her. Die auswärtigen Ämter in den europäischen Staaten hätten sich darauf vorbereiten können. Es gibt also keinen Anlaß, überrascht zu tun. Als der Auflösungsprozeß begann, hat es an einem konkreten Angebot der EG gefehlt, und man hätte Bedingungen stellen können, zum Beispiel im Hinblick auf eine Konföderation – wir helfen Euch, aber bitte keine Kleinstaaterei im Sinne des 19. Jahrhunderts. Dieses Angebot ist aber nie gemacht worden, aus jeweils eigenen Interessen. So hat die BRD vorauseilend – im Enzensbergerschen Sinne „ganz normal“ – isoliert Kroatien und Slowenien anerkannt, aber nicht Bosnien und dadurch schon wieder schiefe Fronten geschaffen.

Also trifft die Bundesregierung eine Mitschuld?

Ja sicher. Der Außenminister Genscher, kaum hatte er das getan, da ist er zurückgetreten, hat sich sozusagen selbst privatisiert. Was ich übrigens für nicht sehr verantwortungsvoll halte, denn sein Nachfolger ist der Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen. Von militärischen Eingriffsszenarien halte ich nichts, das würde den Konflikt nur verschärfen. Jetzt ginge es darum, den ausgerufenen Boykott auch auszuführen. Aber ich sehe, daß zum Beispiel EG-Staaten wie Griechenland sich einen Dreck darum scheren und daß dieses Boykott-Gebot umgangen wird, auch von deutschen Firmen, und nichts Entscheidendes geschieht dagegen.

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