■ Zum unbefriedigenden Kandidatenreigen in der SPD: Sonntag auf der Rennbahn
Die offene Krise bietet auch Vorteile. Ist der Ruf erst ruiniert, kann man die Konsolidierung eine Spur gründlicher angehen. Die SPD hat derzeit nichts mehr zu verlieren. Schon dieser Umstand allein dämpft den Druck der öffentlichen Erwartung. Zudecken läßt sich ohnehin kaum mehr eine Facette der aktuellen Misere. Doch ob es für die Partei irgendwann wieder etwas zu gewinnen gibt, wird davon abhängen, wie sie ihre aktuelle Krise bewältigt. Die währt immerhin schon seit Beginn der achtziger Jahre. Auch die Tatsache, daß es unmittelbar vor der europäischen Wende 89 so aussah, als habe sich die SPD so weit gefangen, daß ein Bonner Wechsel nicht mehr ganz ausgeschlossen schien, ändert wenig daran, daß nach 89 das Maß an Desorientierung ungeahnte Formen annahm: Die deutsche Einheit selbst, die Frage ihrer Finanzierung, West-Lobbyismus versus Angleichung der Lebensverhältnisse, Asyl, Bundeswehreinsätze, innere Sicherheit – in den zentralen politischen Themen herrschte und herrscht sozialdemokratischer Pluralismus.
Die parteiinterne Meinungsvielfalt findet jetzt im Kandidatenreigen ihre personelle Entsprechung. Obwohl keiner der KandidatInnen Begeisterung auslöst, scheint die Partei neuerlich ihr Orientierungs- als Personalproblem ausgeben zu wollen, das dann mit der baldigen Inthronisierung eines neuen Hoffnungsträgers zugedeckt wird.
Wie auch immer, in der SPD herrscht derzeit eine Atmosphäre wie sonntags beim Pferderennen, nachdem schon einige „todsichere“ Wetten danebengegangen sind. Davon profitiert zuerst einmal Gerhard Schröder. Der Niedersachse, der noch zur Amtszeit Engholms das Nachfolgerrennen eröffnete, hebt sich vor allem durch entschiedenen Machtwillen von seinem Vorgänger ab. Es spricht immerhin für einen Rest an Selbstachtung, wenn die Partei vor der lange vermißten Entschlossenheit nicht gleich in die Knie geht. In der Zurückhaltung, mit der die Kandidatur aufgenommen wird, steckt wohl die Ahnung ihres Preises: ein ins Skrupellose tendierender Führungsstil, wie er sich in der unverhohlenen Demontage des Vorgängers bereits andeutete. Auf diesen Vorbehalt setzt bislang Rudolph Scharping, ein Kandidat, der vor lauter ostentativer Bescheidenheit seine Absichten am liebsten gleich wieder dementieren möchte. Auch das ist wohl schon mehr Kalkül als Naturell. Scharping, die ehrlich-solide Haut, ein Enkel ohne Enkel-Image, vor dem sich niemand in der Partei ängstigen muß. Doch wie er der Koalition Respekt einflößen will, bleibt bislang ähnlich unerfindlich wie unter Engholm. Schröders „Ablösungsperspektive“ Rot- Grün beantwortet Scharping denn auch mit einem schwammigen „Alles offen“. Auch daß er ausgerechnet den „großen Lauschangriff“ zum Programm erklärt, deutet an, wohin mit Scharping die Reise geht. Die freilich wäre auch mit Schröder nicht ausgeschlossen. Traditionelle Wirtschaftspolitik, sein knapp gescheiterter U-Boot-Deal oder seine Rolle beim Asylkompromiß lassen nicht erkennen, wie aus seiner Kandidaturofferte Rot-Grün eine ernst gemeinte Reformoffensive werden könnte.
Das jedenfalls stimmt derzeit bei der SPD überein: Die aussichtsreichsten Bewerber sind auch nicht viel zwingender als die Partei in der Opposition. Nicht schon wieder eine Lösung, die die Krise eher ausdrückt als beenden hilft. Die SPD sollte sich Zeit lassen. Matthias Geis
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