: Ein Roma-Viertel hinter den Sandhügeln
Das nordböhmische Chanov ist ein Ghetto für 2.500 Roma / Während in Tschechien die Roma-Feindlichkeit wächst, will ein Roma-Millionär den heruntergekommenen Ort wiederaufbauen ■ Von Tomas Niederberghaus
Chanov liegt hinter den Sandhügeln. Man sagt, es sei der zwielichtigste Vorort von Most. Aus der Bevölkerung der nordböhmischen Stadt traue sich niemand, auch nur einen Fuß in diese Enklave zu setzen. „Gleich dort drügen“, erklärt der Tankwart an der Bundesstraße, „aber lassen Sie besser alle Wertgegenstände hier. Sie wissen schon, die Zigeuner klauen alles. Und kommen Sie heil wieder zurück.“
Hinter den Sandhügeln bietet sich dem Besucher kein schönes Bild: In Chanov ragen Reste achtstöckiger Wohnsilos – Plattenbauweise – zum Himmel. Hier fehlen Fensterkreuze. Hier sind Scheiben zertrümmert. In Chanov leben etwa 2.500 der insgesamt 300.000 Roma der Tschechischen Republik. Und: Hier sind sie tatsächlich und ausschließlich unter sich. Zur Stippvisite kommen nur unliebsame Skinheads oder rechtschaffene Ordnungshüter.
Wohl deshalb zieht der Gast auch die größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich: Aus jedem dritten Fenster lugt ein Gesicht, heraneilende Kinder werden von ihren Müttern zurückgerufen, Männer formieren sich zu Mannschaften.
Der gordische Knoten schlechter Erfahrungen sitzt ziemlich fest. Die Jahre seit der samtenen Revolution 1989 haben den Roma zugesetzt. Im Frühjahr 1990 beispielsweise erschlugen Kahlköpfe einen Türken. Sie dachten, es sei ein Zigeuner. Erst kürzlich äußerte eine Frau im Tonfall eines Cowboys vor tschechischen Kameras: „Zigeuner soll man ausrotten.“ Ganz bewußt wird der Volksname Roma von den Tschechen gemieden. Verschärft hat sich das Problem vor einigen Wochen. Magdalena Babická, frischgebackene „Miss Tschechien 1993“, gab in einer Live-Sendung lauthals zu verstehen, daß sie Jura studieren wolle, um das Land im Hinblick auf die Roma ethnisch zu säubern. Gäste applaudierten freudig. Die Staatsanwaltschaft wird nun prüfen, ob die Schönheitsfee einer rassistischen Gruppe angehört. Babickás Äußerung kommentierte der Pressesprecher der Fernsehanstalt lakonisch: „Wie oft sagt man, ,Ich bring dich um‘, und meint es gar nicht so.“
In verplombten Bahnwaggons durch die Slowakei
„Wir sind die Prellböcke der Nation“, sagt Milan Kadna, der in Chanov in einem der „Kaninchenställe“ der Häuserblocks wohnt. „Erst werden wir hergebracht, dann müssen wir für sämtliche sozialen Probleme des Landes herhalten.“ Milan erinnert sich genau an die Zeit nach dem Holocaust. Mit seinen Eltern wurde er von den Kommunisten in verplombten Bahnwaggons aus dem slowakischen in den tschechischen Landesteil gekarrt. Die Sozialstruktur der Roma sollte zerstört werden. „Wir wurden des öfteren zwangsversiedelt“, sagt er. Um offenen Protest zu verhindern, erhielten die Roma finanzielle Hilfen. Was ihnen von der tschechischen Öffentlichkeit bis heute vorgehalten wird. Ein Standardurteil – nicht nur über Chanov: „Da haben wir ihnen neue Wohnungen gegeben, und seht was sie daraus gemacht haben. Die Fußböden verfeuert.“
Das Geflecht der ungeliebten Volksgruppe ist heute weitgehend zerrissen. Seitdem der Eiserne Vorhang ostwärts wandert, seitdem die Tschechen sich – bedingt durch das deutsche Asylrecht – gen Osten abschotten, versuchen viele Roma der wirtschaftlichen Talfahrt der Slowakei zu entgehen. Ein Großteil sucht Verwandte und Bekannte in den Gemeinden Nordböhmens auf. Zwar wird die Zahl dieser „Auswanderer“ von den tschechischen Medien übertrieben, sicher ist jedoch, daß die Fremdenfeindlichkeit der Tschechen in den letzten Monaten gewachsen ist. Dem überall spürbaren Haß begegnen viele Roma mit aggressiver Gegengewalt. Die Gemeinde Jirkov bezeichnet sich bereits als „bedrohten Ort“. Ganze Straßenzüge sind dort verwüstet.
Wie ein Magnet funktionieren Nordböhmens Städte auch aus anderem Grund: Hier sind die Arbeitsmöglichkeiten wegen der Industriekonzentration relativ gut. Doch Most, Jirkov und Ustí nad Labem greifen bereits zur Selbstjustiz: Nicht „ordnungsgemäß“ angemeldete Roma müssen die Stadt innerhalb weniger Stunden verlassen. Für Milan eine Art Déjà-vu- Erlebnis: „Es ist, als ob sich das Rad der Geschichte zurückdreht.“
Laut echauffiert über das eigenwillige Vorgehen der Gemeinden hat sich seinerzeit Generalstaatsanwalt Jiři Šetina. Mit dem Entwurf eines Migrationsgesetzes setzte er allerdings noch eins drauf: Polizei und Kommunen erhalten offiziell das Recht zur Razzia.
Fallstricke und Stolpersteine gibt es zuhauf. Neben dem Migrationsentwurf ist da auch das Gesetz zur Erlangung der Staatsbürgerschaft. Nach Artikel 7 Absatz 1 muß man der tschechischen Sprache in Wort und Schrift mächtig sein. Für die vielen Analphabeten unter den Roma ist das somit ausgeschlossen. Seit der Teilung des Landes müssen sich auch diejenigen, deren Vorfahren bereits seit 600 Jahren hier lebten, um einen tschechischen Paß bemühen.
„Die Bildungsfrage ist ein großes Problem“, erklärt die Ethnologin Renata Weinerová. Vier Jahre hat sie als Sozialprokuratorin mit Roma zusammengearbeitet. Es mangele an speziellen Einrichtungen, die den Traditionen und Lebensweisen entsprächen. So sei es auch kein Wunder, daß die Arbeitslosigkeit unter den Roma sehr hoch ist. In einigen Regionen liegt sie bei 90 Prozent. „Kranken- und Sozialversicherungen sind für die meisten nicht bezahlbar“, sagt Weinerová, „und im Vergleich zu anderen Minderheiten haben Roma den Nachteil, in der Diaspora zu leben. Kein Mutterland greift ihnen unter die Arme.“
Die Arbeitslosigkeit liegt bei 90 Prozent
Der „Ausschuß für Minderheiten“ der Prager Stadtverwaltung reichte so mehrere Projektanträge ein. Beispielsweise ging es darum, wie Roma bei der Pflege von Grünanlagen oder auf städtischen Baustellen eingesetzt werden können. „Jedesmal sind da die unzähligen Instanzen, ständig braucht man neue Unterschriften“, klagt Maria Kardová, Leiterin des Ausschusses. „Beim letzten Projekt ist uns, bevor wir alle Stellen aufgesucht hatten, ein Privatunternehmen zuvorgekommen.“
In privater Hand ist seit letztem Jahr auch Chanov: Jan Farkaš, Präsident des tschechischen Roma-Kongresses, hat mit der Stadt Most einen Mietvertrag abgeschlossen. Sein Ziel ist es, die Siedlung zu einem Ort zu machen, in dem es als „Belohnung“ empfunden wird, hier zu leben. Bürgermeister Bořek Valvoda kam die Idee gerade recht: Mit der monatlichen Finanzspritze in Höhe von 90.000 Kronen – Hilfe zur Selbsthilfe könnte der Leitspruch lauten – war es möglich, das Roma-Problem draußen vor den Toren der Stadt zu lassen.
Der ungarische Name Farkaš bedeutet „Wolf“. Und so heißt – auf tschechisch – auch seine Baufirma, die etwa 100 Roma aus Chanov beschäftigt. „VLK“ hat in wenigen Wochen kleine Wunder bewirkt: 30 Wohnungen möbelten die Mitarbeiter auf, installierten Küchengeräte und Toiletten, reparierten Hauseingänge. Selbst das ewig ausgeraubte Geschäft ist wieder intakt. In diesem Jahr sollten weitere 54 Wohnungen auf Vordermann gebracht werden. Zu den Plänen Farkaš' gehörte auch der Aufbau eines siedlungseigenen Ausbildungszentrum für junge Roma. Mädchen sollten zu Friseurinnen oder Schneiderinnen, Jungen als Automechaniker oder Installateur ausgebildet werden.
Doch der Stadt geht die Luft aus. Es mangelt nicht nur am Geld: eine Million Kronen in eine Schule zu investieren, deren „Erfolg sehr unsicher“ sei, könne vor der Bevölkerung nicht verantwortet werden, argumentiert Valvoda. Außerdem „käme man dann auch nicht umhin, ob der Akkumulation von Jungen und Mädchen neben der Schule eine Gebärklinik zu errichten“. Nicht zuletzt wird im Rathaus von Most über Farkaš' eigenwillige Methoden und undurchsichtige Unternehmertätigkeit gemunkelt: Der Wolf ist Millionär und angeblich auch in der Luft mobil. Valvoda sagt, die Beziehungen zwischen ihm und Farkaš seien „herzlich und konfliktreich“.
Petr interessiert sich für solche Dinge wenig. Er hat mit eigenen Problemen zu tun. Der 32jährige wohnt mit seiner Frau Alena und den beiden Kindern Lajos und Mira in Chanov. Arbeit hat er nicht. „Wenn sie hören, daß du Roma bist, ist es gleich aus.“ Schon die Stelleninserate seien oftmals entsprechend verfaßt. „Alena verdient ein wenig Geld als Kellnerin“, sagt Petr und kräuselt die Stirn, „ja, die Frauen sind das einzige, was sie von uns wollen.“
Statt dessen kümmert sich der Vater nun um Lajos und Mira. „Warum fragst du nicht, ob wir klauen?“ Petrs Frage kommt unvermittelt. „Das wollen doch alle von uns wissen.“
„Etwa 19 Prozent aller registrierten Straftaten werden von Roma begangen“, weiß Tom Gross. Der britische Jurist macht sich für die Roma-Rechte in der Tschechischen Republik stark. Gründe für die Kriminalität sieht Gross in einem Zusammenspiel vieler sozialer Faktoren. Allen voran die hohe Arbeitslosigkeit. Zudem habe sich gezeigt, daß mit „dem bewußten Auflösen sozialer Netze die Kriminalität auch unter den Roma gestiegen ist“. Auch „parteiische Richter“ seien nicht auszuschließen.
Aktionen gegen die tschechische Apartheid
„Ich möchte das Problem keineswegs beschönigen“, kommentiert Jan Horvath, Chefredakteur der Wochenzeitung Romano kurko, die Kriminalität unter seinen Eidgenossen. „Es ist die Pflicht des Staates und seiner Sicherheitsorgane, die Bürger vor denen zu schützen, die sie gefährden. Aber es darf nicht zugelassen werden, daß dieses Problem vereinfacht und pauschalisiert wird. Darunter leidet die Mehrheit der anständigen Roma.“ Die momentane Situation sei mehr als gefährlich.
Tom Gross spricht schon heute von einem „europäischen Äquivalent zur Apartheid“. Um Verständnis für die Roma zu schaffen und sie aus dem Schußfeld der Gesellschaft zu ziehen, wurde unlängst das erste Roma-Museum im mährischen Brno eröffnet. Auch auf den Straßen Prags versuchen Künstler dieser „Apartheid“ zu begegnen. Am Altstädter Ring, dort wo sich zu jeder vollen Stunde an der Astronomischen Uhr des Rathausturmes die Figuren von Christus und den zwölf Aposteln die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich ziehen, versuchen junge Tschechinnen ihre Landsleute zum Nachdenken zu bringen. Drei Frauen winden sich in bunten Laken. Ihre ausdruckslosen Blicke stehen in einem denkbar merkwürdigen Gegensatz zu ihrem liebevollen Lächeln. Doch die Musik, zu der sie sich bewegen – der Titelsong aus „Time of the Gypsies“ – ist vielen Zuschauern wohl gar nicht bekannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen