: 950 Meter Großstadtgeschichte
■ Boulevard Badstraße: Eine Ausstellung räumt mit Vorurteilen über den Wedding auf / Proletarisches Wohnviertel und Prachtstraße / Totalabriß und Betonsanierung
Wedding. Eine Geschichte wie aus der Blütezeit der Berliner Bürgerbewegung: Die von der Obrigkeit und einem Großkonzern geplante Verkehrsführung paßt den Anwohnern nicht, die unter dem Lärm leiden müßten. Sie tun sich zusammen, sammeln Unterschriften und bringen schließlich das Projekt zu Fall. Die erfolgreiche Bürgerinitiative aber wirkte nicht in den 80er Jahren in Kreuzberg. Weddinger Bürger waren es, die 1914 ihre Interessen vertraten und den Bau einer elektrischen Hochbahn verhinderten. Nachzulesen ist die Geschichte von der erfolgreichen „Bürgerinitiative“ in einer Ausstellung, die mit viel Material Vorurteile über den tiefen Wedding korrigiert.
Zwei Jahre lang haben die Historikerinnen Christine von Oertzen und Gabriele Jäger Unterlagen über die Geschichte der Badstraße zusammengetragen und ausgewertet, die heute nur noch 950 Meter lang ist. Anhand von Stadtplänen, Selbstzeugnissen, Akten und Fotografien zeichnet die Ausstellung eine Sozial-, Kultur- und Verkehrsgeschichte eines Berliner Stadtteils.
Nur noch ganz wenige repräsentative Fassaden zeugen heute davon, daß die Badstraße einmal ein bürgerlicher Boulevard war und ein proletarisches Wohnviertel, eine Amüsiermeile der Jahrhundertwende und eine geschäftigte Einkaufsstraße an der Grenze zu Ost-Berlin nach 1945.
Ihren Anfang nahm die Geschichte der Badstraße im 18. Jahrhundert, als Kur- und Badegäste aus Berlin auf dem noch unbefestigten „Fußsteig“ die Quelle Gesundbrunnen erreichten. 1870 wurde der Kurbetrieb an eine Spekulationsgesellschaft veräußert, die Mietskasernen baute.
Der einstmals verkehrsreichste Berliner S-Bahn-Knotenpunkt Gesundbrunnen bescherte der Badstraße nach dem 2. Weltkrieg trotz schwerer Kriegsschäden wieder einen kommerziellen Aufschwung. In schnell aufgebaute Ladenbaracken deckten sich SBZ- Bürger mit Waren ein. Im Volksmund hieß die Badstraße bald „Sachsendamm“. Mit dem Mauerbau wurde die Straße zwangsweise verkehrsberuhigt. Sie verlor ihre Anbindung ans Zentrum.
Totalabriß und Betonsanierung in den siebziger und achtziger Jahren taten ein übriges. Daß trotz ähnlicher Geschichte und ähnlicher Strukturen eine Initiative wie einst die gegen die Hochbahn in Kreuzberg denkbar wäre, aber nicht im Wedding, ist auch die Folge solcher Prozesse. Der Wedding weist von allen Berliner Bezirken die höchste Fluktuation auf. Zugehörig zu ihrer sozialen Umgebung mit ihrer Geschichte fühlen sich hier offenbar nicht mehr viele Bewohner. Vielleicht kann die Ausstellung dazu beitragen, daß sich das ändert. mon
Im Heimatmuseum Wedding bis 3. Oktober. Führungen können unter Tel. 457 30 53 vereinbart werden.
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