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Durch unübersichtliche Zeiten

Seit zwanzig Jahren (über)lebt das Kollektiv des Rotbuch Verlags im bürgerlichen Literaturbetrieb  ■ Von Jörg Plath

„Zehn Jahre können viel und wenig sein. Ein Portwein wird langsam reif, mancher Weißwein ist schon gekippt“, schrieb der Berliner Rotbuch Verlag 1983 zu seinem zehnjährigen Bestehen. Heute müßte der Weißwein auf jeden Fall durch gut gelagerten Cognac ersetzt werden: Das undogmatisch-linke Unternehmen, nicht nur für die Frankfurter Allgemeine Zeitung einer der großen Literaturverlage Deutschlands, feiert sein zwanzigjähriges Jubiläum.

Doch der 1973 gegründete Rotbuch Verlag zielte nicht auf Alterswürde, sondern erhob die Veränderung der Gesellschaft zum Verlagsziel und versuchte, sie im Kollektiv der Mitarbeiter vorwegzunehmen. Die Genossen hatten als „Kollektivfraktion“ im Berliner Verlag Klaus Wagenbach zusammengefunden. Der damals bekannteste und größte linke Verlag reagierte auf die Studentenbewegung mit dem Abbau von Hierarchien, Arbeitsteilung und Gehaltsunterschieden; Klaus Wagenbach schenkte den Mitarbeitern die Hälfte seines Verlages. Nur das Lektorat wurde ausdrücklich nicht kollektiviert. „Es war und ist eine schwachsinnige Idee“, sagt Klaus Wagenbach noch heute, „daß alle Mitarbeiter im Verlag über alle Inhalte entscheiden können.“ Dieser Auffassung waren sieben Mitarbeiter nicht, es kam zum Streit: Wagenbach interessierte sich für ein Buch von Giorgio Manganelli und lehnte ein Manuskript von Yaak Karsunke ab; die Gegenspieler um den Lektor F.C. Delius hielten es vice versa.

Der alte Konflikt zwischen avantgardistisch-sprachspielerischer und realistischer (dokumentarischer) Literatur allein erklärt nicht, wie verbissen und verletzend über Monate hinweg gefochten wurde. Die Beteiligten von damals sind immer noch traumatisiert. War es „Vatermord“ durch die eher jugendliche „Kollektivfraktion“, wie der heute 62jährige Klaus Wagenbach andeutet?

Der einzige Ausweg aus der verfahrenen Situation war im Juni 1973 die Teilung des Verlages Klaus Wagenbach. Die Reihe Rotbücher fiel an den neuen Verlag, und die flottierende Zeitschrift Kursbuch folgte mit ihrer autonomen Redaktion. So hatte das junge Unternehmen einen Namen und ein ökonomisches Standbein.

Eine komplizierte Verlagsstruktur überlistet das bürgerliche Recht: Der Verlag gehört nicht einer Person, die Angestellten sind zugleich Eigentümer und ihre eigenen Chefs, sie haben gleiche Rechte und Pflichten, organisieren auf mehreren wöchentlichen Sitzungen den Arbeitsalltag bis hin zum Programm gemeinsam und erhalten jeder das gleiche (geringe) Gehalt von z.Z. 3.200 DM brutto.

Für die Genossen von heute ist dieses egalitäre Erbe kein gesellschaftliches Modell mehr, sondern einfach eine praktikable, flexible Arbeitsform. Und der Lektor für Politik, Martin Bauer, lobt die „ungeheuer motivierende Wirkung“ der kollektiven Selbstverantwortung; sie setze Kreativität frei, die ein Verlag als „Ideenfabrik“ brauche. Nicht ganz unwichtig für diesen abgeklärten Umgang mit dem einstigen Prunkstück revolutionärer Hoffnungen ist das Alter der Genossen. Von den Gründungsmitgliedern ist niemand mehr im Verlag. Alle fünf bis acht Jahre wird runderneuert: Wie eh und je ist auch die vierte Rotbuch-Generation von 1993 zwischen 30 und 40 Jahre alt – auf diese Weise bleibt der Verlag im Kontakt mit den kulturellen Strömungen der Zeit.

Lange hatten sich die Genossen ausgeruht auf dem Erfolg der Szene-Cartoons von Gerhard Seyfried, von dessen Apo-Fibel „Wo soll das alles enden“ über 228.000 Exemplare verkauft wurden. Als dann in den späten siebziger Jahren die linke Subkultur zerfiel und zugleich die bürgerlichen Verlage in die ehemalige Nische drängten, lockerten sich die zarten Gesinnungsbande zwischen Verlag und Lesern. So konnte das Kursbuch 1990 problemlos von Rotbuch zu Rowohlt wechseln. Schön sollten die Bücher jetzt sein und repräsentativ. Schlechte Zeiten für die taschenbuchähnlichen Rotbücher.

Auf diese gesellschaftlichen Umbrüche reagierten die Kollektivmitglieder recht spät mit der Diversifikation der Programms. Nach 1986 erschienen vermehrt gebundene Ausgaben, 1987 folgten die ersten Krimis, 1988 die Theoriereihe Rationen, und 1990 ersetzte eine neue Taschenbuchreihe die 1989 eingestellten Rotbücher. Aus dem undogmatisch-linken Bewegungsverlag wurde ein mittlerer Verlag, der heute mit rund 40 Büchern im Jahr ungefähr zwei Millionen DM umsetzt (Rowohlt: 104 Millionen, Suhrkamp: rund 70 Millionen).

Stolz weisen die Kollektivmitglieder auf die Affinitäten zu politischer und ästhetischer Dissidenz in Ost und West hin. Bereits im ersten Verlagsprogramm von 1973 findet sich mit Peter Schneiders „Lenz“ die Totenrede studentischer Revolutionsromantik. In den nächsten Jahren belegen u.a. der Solidarność-Aktivist Adam Michnik, der ungarische Dissident György Dalos und die gerade aus der DDR gedrängte Irene Böhme die Bereitschaft zur selbstkritischen Reflexion der Linken.

Autoren der Ostblocks bereiteten Rotbuch Schwierigkeiten besonderer Art. Die damalige Lektorin Gabriele Dietze machte bei Besuchen der rumänien-deutschen Autorin Herta Müller beängstigende Bekanntschaft mit der Securitate. Als Rotbuch nach 1982 Sascha Anderson verlegte, erlitt sie – Stasi-Deckname „Eule“ – „obligatorische Leibesvisitation[en] an der Grenze, zwei Kurzzeitverhaftungen [...], sogenannte offene Manndeckung zu Fuß und im Auto und physische Blockierung von Wohnungstüren etc.“ Bis zu 20 Personen bemühten sich auf der Leipziger Buchmesse 1982 um Anderson und Dietze. Daß auch der Schriftsteller vom Prenzlauer Berg dem MfS Bericht erstattete, hat sein Westverlag aus den Akten erfahren; im literarischen Lesebuch zum zwanzigjährigen Rotbuch-Jubiläum ist ein solcher Rapport des IM „David Menzer“ alias Anderson über den Verlag abgedruckt.

Schwerer noch als dieser Vertrauensbruch, sind die ökonomischen Folgen der Wende zu verkraften. Wie andere Verlage auch, die keine Gartenbücher oder Ratgeber verlegen, erzielt Rotbuch nur drei Prozent des Umsatzes im Osten Deutschlands. Das beigetretene Leseland konnte daher nicht die Mieterhöhungen von mehr als 80.000 DM im Jahr auffangen helfen, die den Verlag aus dem alten Domizil in einem Hinterhof der Potsdamer Straße nach Neukölln vertrieben.

Im gleichen Jahr brachen zudem wie im ganzen Buchhandel auch bei Rotbuch auf dramatische Weise die Verkaufszahlen der Belletristik ein. Die Kollektivmitglieder kürzten die Gehälter und überlegten, ob sie sich die hochangesehene, von Krimis und Cartoons subventionierte Literatur weiter leisten sollten. Ohnehin hatten wichtige Autoren wie Herta Müller, Tahar Ben Jelloun oder Emine Sevgi Özdamar gerade den Verlag gewechselt. „Uns fehlen einfach die personellen und materiellen Ressourcen, um ein Autorenverlag zu sein“, resümiert Lektor Martin Bauer. Daher sollen in Zukunft nur noch Einzelstücke verlegt werden, die dem Kollektiv am Herzen liegen.

Genauere konzeptionelle Vorstellungen gibt es im Bereich des politischen Buchs, das sich am ehesten durch das Interesse an der „zivilen Gesellschaft“ charaktisieren läßt. Martin Bauer will in Zukunft Technikgeschichte als Kulturgeschichte sowie „gender studies“ verlegen, und er hat den Traum, eine „Archäologie der Moderne“ auf die Beine zu stellen.

Hinter dem historischen Langzeitgedächtnis steht das Interesse an Problemen der Gegenwart und Zukunft, die keine Marx-Exegese mehr zu beantworten weiß. Daher heißt es im Klappentext der angesehenen Theoriereihe Rationen: „In unübersichtlichen Zeiten braucht die Linke keine Leitlinien, sondern produktive Neugier: [...] RATIONEN bieten Vernunft im Plural, Gründe für eine antiautoritäre Kultur, Aufklärung, deren Ergebnis nicht schon vorab feststeht. RATIONEN sind Wegzehrung für die Reise in eine neue Welt.“

Programmatische Offenheit, die aus der gesamtgesellschaftlichen Orientierungslosigkeit eine Tugend macht, ohne in trauter Beliebigkeit auf die „neue Welt“ zu verzichten – das ist nicht die schlechteste Charakterisierung des Rotbuch Verlages.

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