piwik no script img

Pawlow läßt grüßen

Freizeiteinrichtungen, die die Kreativität der jungen Besucher fördern wollen und diesen Anspruch auch engagiert, phantasievoll und professionell in die Praxis umsetzen, sind in unserer Stadt dünn gesät. Besondere Bedeutung kommt deshalb auch den Angeboten in den Ferien zu. Ferienreisen sind mit besonders hohen Erwartungen verknüpft, die je nach Charakter und Persönlichkeit sehr verschieden sind. Kinder sind schon Wochen vor einer Reise vom Reisefieber gepackt, haben aber auch Ängste, die gewohnte und bekannte Umgebung zu verlassen und sich auf neues Terrain zu wagen. Sie versuchen sich schon vor der Reise in die neue Umgebung zu versetzen, träumen in sich hinein und malen ihr eigenes Bild von der zu erwartenden Szenerie, der Atmosphäre und ihrem Verhältnis zu den anderen Mitreisenden.

In der Ferien- und Erlebnispädagogik liegen hier Chancen, den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeiten zu bieten, sich in neuen Situationen, in der Gruppe, in der Natur zu erleben und auszuprobieren und diese dann in den Alltag zu integrieren. Hier ergeben sich unzählige Ansatzpunkte, neben dem Gewohnten und Bekannten neue Verhaltensweisen und Stärken bei sich zu erkennen, Spaß und Freude zu erleben, sich zu erholen und neue Kraft zu schöpfen.

Die Übernachtung im Zelt oder gar unter freiem Himmel unter den Sternen, die Erkundung der Natur sind allein schon wichtige Elemente, die Phantasie und Kreativität beflügeln.

Die Rolle der Pädagogen ist bei diesem Prozeß immens wichtig. Elternersatz, Ansprechpartner, Vertrauensperson, Sicherheitsgarant, Begleiter und Unterstützer sind nur einige der Funktionen, die die jungen Seelen den Erwachsenen bei einer Fahrt zuschreiben.

Natürlich müssen auch spannende und lustige Spiele, Ausflüge, Lagerfeuer, Erkundungen, nachtwanderungen u.ä. organisiert sein. Die Kinder und Jugendlichen müssen in diesen Planungsprozeß einbezogen werden, damit ihre Vorschläge und Wünsche Berücksichtigung finden.

Dem verlogenen und oft kaputten, auf Konkurrenz und Gewalt erlebten Alltagssituationen müssen solche als Alternative entgegengestellt werden, die auf Vertrauen und Ehrlichkeit beruhen, die authentisch und behutsam Beziehungen zwischen allen Beteiligten herstellen.

Ganz anders die Reisen der Story Dealer. Auf der Grundlage der Lüge werden hier Ereignisse konstruiert, denen die Kinder hilflos ausgeliefert sind. Durch das Vorenthalten von Essen werden die Kinder gefügig gemacht und müssen in einem von Erwachsenen minutiös ausgetüftelten und geplanten Drehbuch verschiedene Rollen spielen und Prüfungen bestehen, ohne die Möglichkeit zu haben, aus der „Geschichte“ auszusteigen. Denn die Kinder wissen ja nicht, daß sie angelogen, permanent getäuscht werden. Da wird beispielsweise nach einer achtstündigen Busfahrt ins Ferienlager kurz vor dem Ziel ein Motorschaden vorgetäuscht. Es folgt ein langer Fußmarsch mit Gepäck gemeinsam mit den BetreuerInnen, die sich als GefängniswärterIn, LöwenbändigerIn oder TänzerIn ausgeben. Die 48 Kreuzberger Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren werden allerdings nicht in das ersehnte Ferienheim, sondern zu einem alten Gehöft geführt. Hier treten den Kindern zwei furchterregende Gestalten (Story Dealer) gegenüber, die ihnen nach langem Betteln zwar Unterschlupf, aber keine Nahrung gewähren. „Hunger, Hunger, Hunger!“ skandieren die Kinder immer lautstärker am nächsten Tag. Die Antwort der als unheimlicher Knecht und widerwärtiger Müller agierenden „Pädagogen“ lautet: „Arbeitet, und ihr kriegt auch was zu essen.“ Nach Holzhacken und anderen Arbeitsertüchtigungen dürfen sich die Kinder auf einen gedeckten Tisch mit Junkfood stürzen und werden nun endlich für ihre Untertänigkeit „belohnt“. Die Szene erinnert an den Zirkus. Auch dort werden die Dressurobjekte der Dompteure mit Zuckerstückchen oder ähnlichem belohnt, wenn sie willig Männchen gemacht oder ein anderen ihnen abverlangtes Kunststück vollbracht haben. Der Pawlowsche Hund läßt grüßen.

Der erste und wichtigste Schritt hinein in die „Geschichte“ ist also getan, die Kinder sind jetzt „offen“ für die Story der Dealer. Es wird erreicht, daß die Kinder dem griesgrämigen Müller das Versprechen geben, ihn von einem bösen Pakt zu befreien. Diese Chance gäbe es nur alle 50 Jahre, und die Kinder als Auserwählte geben nun ihre Identität auf, sollen sich einen neuen Namen zulegen und müssen alle nacheinander das Scheunentor durchschreiten. Dort bemalt ihnen der Mönch das Gesicht mit Asche und gibt jedem einzelnen einen Spruch mit auf den Weg. In den folgenden Tagen nimmt dann die „Geschichte“ ihren Lauf. Die Kinder trotten stundenlang an einem langen Seil hinter den Story Dealern durch den Wald hinterher und „lernen“ nun, wozu eine „Gemeinschaft“ fähig ist. Haben die Kinder wieder eine der vorgegebenen Kraft- oder Mutproben bestanden, werden sie von den Erwachsenen gelobt: „Das ging nur, weil alle an einem Strick gezogen haben.“ Die Skeptiker und „Querulanten“ unter den jungen Seelen werden mit Hilfe von Angst (mitunter auch Todesangst: „Wenn einer von euch stirbt, kommt der andere und sagt Bescheid“), mit Gruppendruck, Schuldgefühlen und Entscheidungsmanipulationen in das zu bildende „Rudel“ (O-Ton Story Dealer) „integriert“. Denn das „Happy-End“ der ganzen Story, den gefährlichen, intelligenten und unberechenbaren „Schweinehund“, der die ganze Gegend unsicher macht und eine Schleimspur aus Kot hinter sich herzieht, zu erlegen, muß am Ende der Ferien ja erreicht sein. Um es noch einmal deutlich zu machen, hierbei handelt es sich um eine Inszenierung, die über die gesamte Dauer der dreiwöchigen Reise geht und auch nach dem Ende der Reise nicht aufgelöst wird. Erklärtes Ziel dieser unter dem Titel „Schweinehund, wir spalten Dich“ durchgeführten und zahlreicher anderer als „Phantastische Reisen“ deklarierten Projekte der Story Dealer ist, daß die Kinder Inszenierung und Wirklichkeit nicht mehr voneinander trennen können. Von einem harmlosen Spiel nach dem Muster „Räuber und Gendarm“ kann hier also keine Rede sein. Jedermensch, der sich in das Seelenleben der Kinder einfühlen kann, wird erahnen, was diese aufgestülpte, sadistische Erwachsenenphantasie bei den Kindern für Zeichen und Narben hinterläßt. Hier wird mit der Methode der „Lügenpädagogik“ die Hilfsbereitschaft und Gutgläubigkeit, die Naivität und Offenheit von anvertrauten Kindern in perfider Weise mißbraucht, werden sie in einem makabren Spiel als Marionetten für die Umsetzung von Allmachtsphantasien von Erwachsenen eingesetzt. Die Eltern wurden nicht detailliert über den Charakter der Reise informiert, weder vorher noch im nachhinein. Das alles wird geschickt eingekleidet in einen wissenschaftlichen Deckmantel, wird als „Abenteuer- oder Erlebnispädagogik“ verkauft. Was soll dieses massive und permanente Hineindringen in die Phantasiewelt von Kindern und Jugendlichen, in der die Würde der ausgelieferten TeilnehmerInnen ständig mißachtet wird, noch mit einem erlebnispädagogischen Ansatz zu tun haben?

In der Hoffnung für eine Jugend mit Zukunft und ein würdevolles Leben, denn: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Daran müssen auch machtgeile Dealer gemessen werden. Eberhard Schwartz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen