■ Rücktritte sind gut – Aufklärung ist besser: Die Stunde der Kriminalisten
Wilder Schußwechsel? Gezielter Kopfschuß? Selbstmord? Eigene oder Polizeiwaffe? Unglücklicher Zufall beim Sturz? Jeden Tag eine neue Version, ein Schwarm behördlicher Gerüchte. Was zunächst so klar schien, hat sich inzwischen als trostlosester Polizeiskandal der Republik entpuppt. Und als Musterbeispiel dafür, wie der erste Anschein ganz und gar trügen kann. Gewiß ist nur eines: zwei Menschen sind tot. Unterdessen verletzen der Generalbundesanwalt und das BKA nahezu alle Regeln seriöser Beweissicherung und inszenieren ein unverschämtes Verwirrspiel. Dabei gibt es eine Reihe schwerwiegender Indizien, die den dringenden Verdacht begründen, es sei der bewegungs- und wehrlose Wolfgang Grams von einem Mitglied der GSG 9 mit Bedacht in den Kopf geschossen worden.
In dieser bedrückenden Situation ist es nahezu belanglos, wer Rudolf Seiters und von Stahl demnächst folgen wird. Denn Rücktritte mögen fällig sein – doch bringen sie die jetzt unbedingt notwendige Aufklärung kaum voran. Der gewaltsame Tod ist stets eine menschliche Tragödie; die an Strafvereitelung grenzenden, zögerlichen, schlampigen und verdunkelnden Ermittlungen aber sind eine politische Katastrophe. Denn wo man dem einzelnen Exzeßtäter vielleicht noch schlechte Nerven zubilligen mag, muß man dem nachfolgenden polizeilichen Verhalten strategisches Kalkül unterstellen.
Der Fortbestand der GSG 9 steht zur Disposition. Was ist von einer Truppe zu halten, die z.B. einer Gefangenen (so Birgit Hogefeld) auf der Fahrt ins Polizeipräsidium Wismar eine schwarze Kapuze über den Kopf zieht? Mag sein, daß sich mancher an geschwärzte Gesichter von MEK- und GSG-9-Leuten gewöhnt hat. In Bad Kleinen sollen einige Sturmhauben getragen haben; gesichtslose Anonymität senkt bekanntlich Tötungshemmungen. Die schwarze Kapuze aber ist ein in seiner Bosheit kaum zu überbietendes Symbol der Menschenverachtung, das wir nicht von ungefähr aus der Praxis südamerikanischer Todesschwadronen kennen.
Das Polizeifiasko in Bad Kleinen erhellt ein Strukturproblem jeder rechtsstaatlichen Ermittlungsarbeit. Strafverfolgung kann im anspruchsvollen Sinne nur insoweit fair genannt werden, als sie nicht in eigener Sache vonstatten geht. Verfolgen und Urteilen „ohne Ansehen der Person“ – das ist schon im Routinefall eine Zumutung, die der Rechsstaat dem Personal von Polizei und Justiz abverlangen muß. Obendrein aber gibt es Polizeibeamte, die zuweilen Straftaten begehen – welche wiederum von Polizeibeamten verfolgt werden müssen. Die gemeinsame Berufsausübung prägt indes einen Korpsgeist, dessen Folge eine gewisse Beißhemmung ist. In der Stunde der Not kann diese in Kumpanei und Komplizenschaft umschlagen.
Es liegt auf der Hand, daß der Tatverdacht von Bad Kleinen das skizzierte Problem auf denkbar dramatische Weise zuspitzt. Gerade darum hängt in diesen Tagen buchstäblich alles an einer halbwegs korrekten kriminalpolizeilichen Ermittlungsarbeit.
Wer mit Strafverfahren vertraut ist, weiß, wieviel hier vom ersten Zugriff, den ersten Vernehmungen, der Korrektheit der Protokollführung abhängt. Im ganzen sollen, so heißt es, 54 Polizisten beteiligt gewesen sein! Die arglose Phantasie reicht nicht aus, um zu ermessen, wieviel Vernehmungsprotokolle von wie vielen tatnahen Beamten in der Not, diese inhaltlich zu harmonisieren, bereits „korrigiert“ oder beiseite geschafft, wie viele Beweismittel unterdrückt wurden. Ganz und gar unglaublich jedenfalls, daß eine Woche nach dem blutigen Zwischenfall noch immer keine formellen Vernehmungen protokolliert sein sollen! Statt dessen werden diverse „Befragungen“ kolportiert.
Was jetzt also zählt, ist energische Ermittlungsarbeit. Dazu bedarf es nicht einmal eines besonderen Jagdeifers. Ein leidlich engagiertes Verfolgungsinteresse genügte, ungefähr so, wie es derzeit bei der „Organisierten Kriminalität“ entwickelt wird. Die Forderung des Tages lautet daher, jetzt eine ebenso professionelle wie nur menschenmöglich neutrale Aufklärungsarbeit auf die Beine zu stellen. Es versteht sich, daß ein „neutraler (und kompetenzloser!) Gutachter“ namens Christoph Grünig, seines Zeichens Präsident des Bundesverwaltungsamtes und langjähriger Verfassungsschützer, dazu völlig ungeeignet ist. Seine Berufung durch Seiters war geradezu ein Verzweiflungsakt und ist in seiner Einzigartigkeit ein weiteres Indiz dafür, welche Dimensionen diese Affäre hat.
Wir brauchen eine im besten kriminalistischen Sinn des Wortes rücksichtslose Ermittlung; daneben ist jeder Glaubensstreit darüber, wer diesem Staat was zutraut, fruchtlose Spekulation. Jede öffentliche Erklärung der nächsten Zeit muß daran gemessen werden, ob sie einen vernünftigen Beitrag zur Aufdeckung des Geschehens enthält. Auf politischer Ebene ist im übrigen klar, daß sich der Bundestag am Montag kommender Woche nicht darauf beschränken darf, die Kulisse für die Vereidigung des neuen Innenministers abzugeben und ansonsten den Innenausschuß tagen zu lassen. Eine harte und offene Plenardebatte ist ebenso fällig wie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Der zentrale Apparat der „inneren Sicherheit“ ist aus dem Ruder geraten.
Das LKA Mecklenburg-Vorpommern existiert keine drei Jahre. Die dort gebildete Sonderkommission, die jetzt mit den Staatsanwälten in Schwerin nicht zuletzt gegen BKA und GSG 9 äußert schwierige, brisante und heillos verspätete Ermittlungen führen soll, ist sichtlich überfordert. Sie muß daher unverzüglich durch hochkarätige Kriminalbeamte anderer Bundesländer verstärkt werden, die keinerlei Vernetzungen zum BKA, zur GSG 9 oder zur Generalbundesanwaltschaft aufweisen. Das ist, entschlossene politische Führung und Verfolgungsinteresse vorausgesetzt, im Wege der Amtshilfe ohne weiteres möglich.
Sollten sich indes die Strafverfolgungsbehörden dieses Staats als unfähig erweisen, eine kunstgerechte Ermittlung zu führen, weil sie fürchten, womöglich einen verbeamteten Mörder zu überführen, mag sich ein umsichtig improvisierter Untersuchungsausschuß konstituieren. In diesem Land gibt es genügend sachverständige und verantwortliche Bürgerinnen und Bürger, dazu ein paar Dutzend hochqualifizierte Strafverteidiger und Verteidigerinnen. Wo es staatlichen Behörden an Willen und Fähigkeit gebricht, einen selbstbezüglichen Tatverdacht aufzuklären, könnten sie als Anwälte der Gesellschaft, des öffentlichen Interesses fungieren. Das will sorgfältig überlegt sein.
Zu schnell freilich sollte niemand die Strafverfolgungsbehörden aus ihrer ureigensten Pflicht entlassen. Die Ermittlung in gleichsam eigener Sache ist für jeden Polizeibeamten eine Zumutung, die ein Höchstmaß an Professionalität und Reflexion verlangt. Hiesige Staatsanwälte prahlen gern damit, ihre Behörde sei, weil sie von Gesetzes wegen alle be- und entlastenden Umstände zu ermitteln habe, „die objektivste Behörde der Welt“. Wer so unentwegt den Schild der unpolitischen Amtsführung mit Gratismut vor sich herträgt, muß im Ernstfall dieses hehre Ideal wenigstens ansatzweise einlösen. Die Tötung im Staatsdienst ist keine Bagatelle. Nirgendwo. Schon gar nicht in diesem Land. Horst Meier
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