: Wunder und Schrecken
Über die Kunst, die Zeichen der Zeit zu deuten ■ Von Michael Rutschky
Die Etrusker, wurden wir auf der großen Ausstellung über sie und ihre Bedeutung für Europa belehrt, die das Alte Museum zu Berlin im ersten Halbjahr 1993 mit großem Erfolg gezeigt hat, die Etrusker hingen einer Religion der „kleinen Offenbarungen“ an.
In einer Unmenge zentraler wie marginaler Ereignisse, Wettererscheinungen, Tierwanderungen, unbekannte Gäste, brachte sich eine Unmenge Götter ins Spiel. Es kommt nur darauf an, die Zeichen richtig zu deuten. Eine bestimmte Kategorie Zeichendeuter hatten die Etrusker regelrecht professionalisiert, die haruspices – Einzahl: haruspex –, Eingeweidebeschauer, die insbesondere aus der Leber des Opfertieres den Stand der Dinge zu ermitteln wußten. Diese Praxis übernahm das antike Rom von den unterworfenen Etruskern; der Kaiser Claudius, wurden wir in der Ausstellung belehrt, sprach ihnen wegen dieser Deutungskunst ewigen Ruhm zu.
In unserer Welt ist die Kunst, die Zeichen der Zeit zu deuten, gleichfalls einer Berufsgruppe zugeordnet, unsereinem, der Intelligenzija. Zweifellos gehören die etruskischen Haruspices in die Vorgeschichte unserer Disziplin – bei den Römern gab es auch noch die Auguren = Interpreten des Vogelflugs, sowie das auspicium, die Ausdeutung des Vogelgesangs. Auch wenn wir statt dessen Zeitungen lesen oder uns einen Reim auf die Fernsehbilder zu machen versuchen, so weit entfernt haben wir uns von diesen Ahnen nicht.
Der Unterschied zwischen den Lesematerialien ist aber der zwischen traditioneller und moderner Welt. Die Zeichen, die auf dem Papier stehen, stammen von anderen Menschen, sind Teil der innerweltlichen Kommunikation. Was dagegen den etruskischen Haruspices ihre Lebern sagten, kam von außen, Göttern, metaphysischen Wesen in einem anderen Raum: Kein Mensch hatte diese Zeichen niedergelegt; die besondere Kunst des Deuters begründete sich auf den Stiftungsakt, was nicht geschrieben ward, als lesbar aufzufassen.
Mein theologisches Wörterbuch belehrt mich darüber, daß auch im Christentum „Zeichen und Wunder“, eigentlich eine Formel des Alten Testaments, zu gewärtigen sind. Anders als bei den polytheistischen Etruskern haben wir als metaphysischen Autor, der im Zeichen, das nie geschrieben ward, offenbart, den einen und einzigen Gott aufzufassen. Doch muß das Wörterbuch einräumen, daß, während die Welt des Alten Testaments so reich durchwirkt wird von göttlichen Manifestationen, es in der modernen Welt entschieden hapert an Zeichen und Wundern. Wir kommen in der Regel mit innerweltlicher Kommunikation aus, können als Autor der Botschaft diesen Herrn dort hinter dem Mikrophon oder wenigstens die Stämme jenseits der Berge erkennen, die zwar unsichtbar sind und deshalb zu Projektionen einladen, aber gleichwohl irgendwie von unserer Art sein müssen, auf keinen Fall Baumgeister und anderes metaphysisches Kleingetier.
Und doch. Wie restlos wir auch auf innerweltliche Kommunikation vertrauen, die etruskische Schicht unserer Erfahrung bleibt stets aktualisierbar. Früher habe ich gedacht, ein Organ wie die Bild-Zeitung sei regressiv an seine Vorgänger gefesselt, die archaischen Zeitungen des Barock, die nur von Wundern und Schrecken, Mißgeburten und dem erstaunlichen Leuchten des Firmaments am Abend des ersten Donnerstags im zweiten Sommermonat zu berichten wußten. Heute neige ich zu der Annahme, auch die Autoren der Bild-Zeitung griffen nur auf diese Schicht der Erfahrung, die ich die etruskische nennen möchte, zurück, diese Schicht sterbe nie restlos ab in der modernen Welt, könne vielmehr bei Bedarf nach Belieben wiederbelebt werden, im Guten wie im Bösen.
Im Guten. Meine alte Mutter pflegt die sonntäglichen Telefongespräche mit ebenso detaillierten wie entzückten Erläuterungen des Sommerwaldes und der Erscheinungen des Wetters einzuleiten, die sie vom elften Stock ihres Altersheims aus erblickt. Seit je hat sie die Dinge vor allem nach ihrer häßlichen oder angenehmen Seite zu klassifizieren gewußt, ästhetisch; einen „ausgebildeten Schönheitssinn“ hätten ihr früher die kulturellen Haruspices attestiert (während das Wort „Schönheitssinn“ heute zum Trödel rechnet). Aber wie sie dann triumphierend die Wettererscheinungen oder das Leuchten des Waldes als „erstaunlich!“ feiert, erkenne ich doch das Etruskische daran: eine kleine Offenbarung, Epiphanie, als habe ihr ein metaphysisches Miniaturwesen sein Wohlwollen mitgeteilt, es werde ihr einen gelingenden Tag schenken. Das ästhetische Behagen hat sich momentan mit dem religiösen Hintergrund wieder verschmolzen, aus dem es in der modernen Welt herausgetreten war. Das Schöne ist ein Wunder, durch innerweltliche Kommunikation unerzeugbar.
Aber ihr begeistertes „erstaunlich!“ kann meine alte Mutter auch auf restlos zwischenmenschliche Vorgänge anwenden. Die überraschende Wendung in der Karriere eines Neffen: seine Firma schickt ihn nach Usbekistan; daß sich die kleine Jutta mit einem Schwarzafrikaner vermählt hat –: Wenn man es unter „Schönheitssinn“ verbucht, erkennt man die Neigung einer genießerischen alten Dame, im wirklichen Leben die romanhaften Wendungen („dann verschlug es ihn nach Usbekistan“), die unerhörten Begebenheiten sich zum Vergnügen auszugucken. Aber auch hier muß man, denke ich, am Ästhetischen die kleine Offenbarung, das etruskische Moment, das Wirken eines Kleingotts erkennen, der von außen wohltätig hereinzuwirken scheint.
Im Bösen ist das Wunder der Schrecken. „Gräßlich!“ entfährt es meiner alten Mutter, wenn sie damit in Berührung kommt. „Gräßlich!“ kann das Wetter sein, wenn es zu heiß oder zu kalt, zu trocken oder zu feucht oder auch nur eines davon für längere Zeit ist. „Gräßlich!“ war es, als einer der Hunde ihres alten Freundes Kurt plötzlich bei einem Spaziergang im Wald zusammenbrach und verendete, und der alte Mann mußte das große, schwere, geliebte und tote Tier den Weg zurück auf seinen Schultern tragen. Als „gräßlich!“ aber können auch ganze Personen sich mit der Macht einer kleinen Offenbarung enthüllen: Ich erinnere mich an einen gewissen Heubes, Arbeitskollege meines Vaters in den dreißiger Jahren, gegen den gar nichts Bestimmtes vorlag. Gleichwohl hatte meine Mutter ihn aus allen Fotografien herausgeschnitten, die ihn in der Nähe meines Vaters zeigten. „Er war“, sagte sie lachend, „eben einfach gräßlich!“
Gehen wir zur Bühne der großen Ereignisse hinüber, so imponiert als das allererstaunlichste Wunder der letzten Zeit: die Öffnung der Mauer, der Sturz des Sozialismus, die Wiedervereinigung. Der allergräßlichste Schrecken bleibt Hitler. Und von ihm aus erhält das „gräßlich!“, mit dem sie die nicht abreißende Kette der Brandanschläge kommentiert, die verbrecherische Jungmannen im Namen des Deutschtums gegen – möglichst schlafende – Ausländer verüben, sein ganzes Gewicht. Religion kommt ins Spiel, lehrt der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz, wenn die Person oder die Kultur von einem Ereignis oder einem anhaltenden Problem unter dem Aspekt der Erkenntnis wie unter dem Aspekt der Moral wie unter dem Aspekt des Gefühls überwältigt wird. Religion beziehungsweise Metaphysik meldet sich, um den Philosophen Heidegger zu bemühen, wenn das Seiende im Ganzen sich enthüllt, und eben dies erwirkt ein übergroßes Ereignis oder Problem, im Guten als Wunder (der schöne Sommer, der Fall der Mauer), im Bösen als Schrecken. Wenn, wie meist, der Monotheismus, der Rückgriff auf den einen und einzigen Gott als Verursacher unmöglich ist, müssen wir uns mit der etruskischen Lösung, der metaphysischen Programmvielfalt begnügen.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte natürlich die im deutschen Namen auf Ausländer verübten Brandanschläge für ein restlos innerweltliches Problem. Die etruskische Lösung, daß darin der böse Geist der neuesten Jugend sich ausgibt oder der deutsche Volksgeist, dessen Zerstörungskraft die Wiedervereinigung freigesetzt habe, die etruskische Lösung, auf die alte Damen wie die Bild-Zeitung wie wir alle zuweilen verfallen, die etruskische Lösung zeigt das Problem an. Das uns in vollständige Ohnmacht stürzt, weil wir es durch innerweltliche Kommunikation nicht in den Griff bekommen. Bislang. Bis auf weiteres.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen