piwik no script img

"Nicht wirklich obdachlos"

■ Der Sozialarbeiter Michael Zimmermann-Freitag im Gespräch über die jungen Straßenkinder "Mainhattans" / Ausländische Jugendliche nutzen eher "sleep in"

taz: „sleep in“ bietet Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße leben oder dorthin für eine gewisse Zeit geraten, ein paar Tage im Monat einen Schlafplatz. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, eine solche Einrichtung zu schaffen?

Zimmermann-Freitag: Vor etwa vier Jahren gab es hier in Frankfurt ein Symposium über Jugend und Gewalt. In diesem Rahmen wurden Überlegungen wach, inwieweit man als Prävention Jugendliche und Erwachsene im Alter von zwölf bis zwanzig schützen kann, wenn sie an einem konkreten Abend nicht wissen wohin. Das war in etwa der Auslöser. Dem folgten Gespräche zwischen unserem Verein und der Stadt Frankfurt, die sich letztendlich von der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung für Jugendliche überzeugen ließ. Sie finanziert jetzt das Projekt, das letztes Jahr im Juni gestartet ist, mit.

Welche Gründe haben Jugendliche, die „nicht mehr wissen wohin“ und schließlich zum „sleep in“ finden?

Es sind im Prinzip alle Fälle und Gründe vorstellbar, die in der Jugendhilfe und in allen Heimeinrichtungen auch als Gründe der Unterbringung genannt werden. Sei es, daß es zu Hause Streß gibt — das sagen sehr viele. Sei es, daß zu Hause die Wohnverhältnisse sehr beengt sind, daß in der Familie sehr viele Kinder sind, für die dann irgendwann nicht nur sprichwörtlich kein Platz mehr ist. Sei es, daß die Eltern ihre Kinder mißbrauchen. Seien es Schläge von der Mutter, von den Eltern, vom Vater. Seien es unterschiedliche kulturelle Identitäten. Bei ausländischen Jugendlichen ist es oft der Fall, daß die Eltern andere Vorstellungen des Lebens haben als die Jugendlichen selbst, und es dann darüber zu Auseinandersetzungen kommt. Das führt nicht selten dazu, daß junge Menschen auf die Straße gesetzt werden.

Hat das „sleep in“ den Betreuungsanspruch einer in Anführungszeichen normalen sozialen Einrichtung, oder wollt Ihr nur eine Art Service-Leistung anbieten? Anders gefragt: Redet Ihr mit den Jugendlichen über ihre Situation?

Das „sleep in“ bietet Übernachtungsmöglichkeiten bis zu sechs Mal im Monat. Als sogenanntes niedrigschwelliges Angebot müssen die Jugendlichen nicht über das Jugendamt oder die Polizei zu uns. Sie tun es freiwillig. Sie können einfach abends zwischen sieben und zwölf an der Tür klingeln und werden dann aufgenommen. Das stellen wir erstmal zur Verfügung. Die Übernachtung, ein warmes Essen, die Möglichkeit zu duschen, Wäsche zu waschen und am nächsten Morgen ein Frühstück. Und um zehn Uhr früh müssen sie das Haus verlassen.

Die Beratung von unseren Mitarbeitern sehen wir nur als Option, die genutzt werden kann, wenn sie von den Jugendlichen gewünscht wird. Es sind immer zwei pädagogische Fachkräfte über Nacht hier. Die können angesprochen werden, die können in Krisen intervenieren, die können Hilfe anbieten und die können auch weitervermitteln in Richtung Jugend- oder Sozialamt. Es gibt keine Zwangsberatung bei uns: Die jungen Menschen bekommen nicht eine Nacht gegen eine Stunde Beratungsgespräch, sondern sie bekommen eine Nacht für nichts. Die einzige Bedingung, die wir den Jugendlichen stellen, ist, daß die Hausordnung eingehalten werden muß.

Sechs Tage im Monat sind ja nicht allzuviel. Für den einzelnen Jugendlichen könnte das ein Hindernis sein, weiter zum „slepp in“ zu kommen. Erreicht Ihr so alle Jugendlichen, die Ihr mit Eurem Angebot ansprechen wollt?

Diese Sechs-Tage-Regelung ist vor dem Hintergrund gedacht, daß diese Einrichtung keine Dauereinrichtung werden soll, weil sie ansonsten sehr schnell voll wäre. Wir haben hier sechzehn Plätze plus vier Notplätze, wir können also maximal zwanzig Leute aufnehmen. Durchschnittlich sind wir zu 90 Prozent belegt. Wir wollen im Prinzip sehr viele junge Menschen erreichen. Nicht alle Kinder oder Jugendliche wollen weitervermittelt werden. Nicht alle brauchen das. Wir erfüllen hier lediglich eine Feuerwehrfunktion, um mal, wenn's wirklich nicht mehr geht, da zu sein.

Sie haben es ganz überwiegend mit ausländischen Jugendlichen zu tun. Wie erklären Sie sich dieses hierzulande doch recht neue Phänomen ausländischer obdachloser Jugendlicher?

Ich möchte in dem Zusammenhang weder bei ausländischen noch bei deutschen Jugendlichen und jungen Menschen von der klassischen Obdachlosigkeit sprechen. Also diese klassische Obdachlosigkeit, die man bei Berbern kennt oder bei älteren Menschen. Die sind wirklich völlig rausgefallen und müssen ohne ein Dach über den Kopf auf der Straße leben. Unsere Kinder und Jugendlichen leben nicht über einen so langen Zeitraum ohne Obdach. Es sind bei uns sehr wenige gewesen, die über mehr als zwei Monate wirklich draußen waren und über uns zum Jugendamt vermittelt werden mußten.

Weil es für den Staat theoretisch keine jugendlichen Obdachlosen geben kann...

Richtig. Der Gesetzgeber macht klare Vorgaben: Das Jugendamt ist bei Minderjährigen verpflichtet, Hilfe anzubieten. Wohlgemerkt, bei Minderjährigen. Aber zurück zu der Frage, warum so viele ausländische Jugendliche zu uns kommen: Zu dieser Problematik deutsche und ausländische Kids auf der Straße und die Suche nach der Unterkunft im „sleep in“ ist es wichtig festzuhalten, daß die Einrichtung hier erst seit einem knappen Jahr arbeitet, das heißt Erfahrungen, die weiter zurückliegen, haben wir nicht. In dieser Zeit ist der Anteil der Ausländer tatsächlich gestiegen. Wir können uns das nur mit der derzeitigen wirtschaftlichen Krise und den zunehmenden Generationskonflikten unter den Ausländern erklären. Man kann, glaube ich, auch nicht feststellen, daß es das Problem nur einer bestimmten Schicht von Ausländern ist. Selbst „Mittelschichtler“ — bei Ausländern wie bei Deutschen — geraten heute in Wohnungsnot und können sich manches nicht mehr leisten, was sie früher selbstverständlich hatten.

Nach der Zahl der jungen Frauen, die bei Euch Unterschlupf suchen, zu urteilen, scheint das „Straßenkinderproblem“ zumindest in der Mainmetropole Frankfurt eine reine Männersache zu sein.

In der Tat kommen zu uns sehr wenige Frauen. Ich glaube, daß junge Männer oder Jungs von ihrer psychischen Struktur her eher nach außen hin orientiert sind, mehr nach außen auftreten und mehr das Wagnis auf sich nehmen, rauszugehen, abzuhauen. Während ich bei den jungen Frauen den Eindruck habe, daß sie eher noch Unterschlupf bei Bekannten oder Freunden finden, die sagen ,Ach Gott, das arme Mädchen kann man doch nicht auf der Straße übernachten lassen.‘ Frauen treffen in einer solchen Situation auf mehr Mitgefühl und Verständnis. Das Gespräch führte

Hakan Songur

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen