: Rückkehr in den Südlibanon
Obwohl sie der Stabilität des israelisch-libanesischen Waffenstillstandes mißtrauen und weitere Angriffe fürchten, machen sich jetzt Tausende von Flüchtlingen auf den Rückweg ■ Aus Beirut Khalil Abied
Nach den Schrecken der letzten Woche gab es gestern in Beirut ein Fest der Freude: die schiitischen libanesischen Gruppierungen „Amal“ und „Hisbollah“ haben einen Rückkehrermarsch für die Flüchtlinge aus dem Südlibanon organisiert, der gestern morgen im Süden der libanesischen Hauptstadt begann. Tausende schlossen sich dem Marsch an, der nach den Worten eines Funktionärs der Amal-Bewegung „das Ziel der israelischen Aggression zum Scheitern bringen soll, im Südlibanon eine vergrößerte ,Sicherheitszone‘ zu schaffen.“
Das am Samstag durch US-Vermittlung zustandegekommene Waffenstillstandsabkommen zwischen der israelischen Regierung und den libanesischen Milizen hatte zunächst nicht dazu geführt, daß sich die Flüchtlinge auf den Heimweg machen. Viele Menschen aus dem Südlibanon, die letzte Woche weiter nördlich Zuflucht vor dem schweren israelischen Bombardement gesucht hatten, beurteilten die Stabilität der Waffenruhe zunächst eher skeptisch. Sie wollten nicht zurückkehren, solange es für den Südlibanon keine „politische Lösung“ gibt.
Der vorgestern bekanntgewordene Beschluß der Regierung, die libanesische Armee in die Kontrollgebiete der UNO einrücken zu lassen, war für die Flüchtlinge aber ein durchaus gutes Zeichen. Zwar ändert das nichts an der israelischen Besatzung des südlichsten Teils des Libanon, doch hat die Regierung mit diesem Beschluß die letzte Stufe der nach dem Bürgerkrieg begonnenen Entwaffnung der Milizen von Hisbollah und Amal in Angriff genommen.
Viele Flüchtlingsfamilien schickten jedoch erst einmal nur ein Mitglied in den Süden zurück, um die Lage zu sondieren. Doch der Rückkehrermarsch hat auch unter denen die Stimmung verbessert, die erst einmal in Beirut bleiben. Liebeslieder für den Libanon wurden gesungen und überall wehten die Fahne des Libanon und die grüne Fahne der Amal-Bewegung.
Nachdem die offiziellen Schätzungen über die Zahl der Flüchtlinge im Chaos der letzten Woche stark differiert hatten, hieß es Anfang dieser Woche, insgesamt seien etwa eine halbe Million Menschen aus dem Südlibanon geflüchtet, die meisten nach Beirut.
Soweit sie kein Geld und keine Autos hatten, versuchten die Flüchtlinge, sich weiter südlich, in Sidon und Tyrus, in Sicherheit zu bringen, während die Bewohner dieser Städte wiederum nach Beirut geflohen waren. Die Städte Sidon und Tyrus und die Flüchtlingslager Al-Baas und Rashidiye waren Anfang der Woche noch leer.
Ein beträchtlicher Teil der Flüchtlinge ist bei Verwandten untergekommen. „Ich habe zur Zeit 37 Personen in meinem Haus“, berichtete zum Beispiel der Beiruter Hotelbesitzer Mohammad Saleh. Die Bewohner der Hauptstadt, vor allem in den schiitischen Stadtteilen Südbeiruts, hatten den Obdachlosen letzte Woche ohne weiteres ihre Türen geöffnet. Wo der Platz nicht ausreicht, sind sie auf Veranden und in Treppenhäusern untergebracht. Die meisten leben in Schulgebäuden, pro Klassenzimmer zwei oder drei Familien. Fast alle müssen bisher auf dem nackten Boden schlafen. Es fehlt einfach an allem.
„Wir sind nur mit den Kleidern, die wir anhatten, losgelaufen“, erzählt eine alte Frau in der Al- Housh-Schule in Südwestbeirut. „Wir hatten furchtbare Angst, und haben nicht gewagt, irgend etwas einzupacken. Jetzt sitzen wir hier wie die Bettler.“ Sie bricht in Tränen aus. Die meisten Flüchtlinge klagen, daß die Regierung ihnen keine ausreichende Hilfe gewähre. Sie brauchen vor allem Kleider, Matratzen, Decken und wenigstens das allernötigste Küchengerät, wie Teller und Töpfe. Viele haben nicht einmal Schuhe, denn sie sind mitten in der Nacht barfuß aus ihren Häusern gelaufen.
Die libanesischen Behörden sind immer noch ziemlich hilflos: „Wir wurden von dem Angriff überrascht“, erklärte ein Mitarbeiter, „was passiert ist, übertraf unsere schlimmsten Erwartungen. Es fehlt uns vor allem das nötige Geld, um schnelle Hilfe bereitzustellen. Aber wir versuchen unser Bestes.“
Inzwischen sind bereits Krankheiten unter den Flüchtlingen ausgebrochen. Vor allem der Schlafentzug, der Schock und die nächtliche Kälte führten zu Darminfektionen und Lungenentzündungen. Die Hilfsorganisationen von Amal und Hisbollah und die christlichen Kirchen sammeln jetzt im ganzen Land Spenden. Einige Frauen haben ihren gesamten Goldschmuck hergegeben. „Wir wollen keine Almosen, wir wollen zurück in einen sicheren Südlibanon. Wir wollen nicht die neuen Palästinenser des Nahen Ostens werden“, sagen viele. Der junge Hussein beschreibt die Katastrophe zeitgemäßer: „Wir sind die Bosnier der Region geworden“, sagt er.
So einig sich die Flüchtlinge darüber sind, welches Schicksal sie fürchten, so unterschiedlich sind ihre Meinungen über den Widerstand gegen die israelischen Truppen. Viele sind wütend über Hisbollah und Amal, die als Parteien der Schiiten bei den libanesischen Parlamentswahlen im letzten Jahr sehr erfolgreich waren. Das Vorgehen ihrer Milizen gegen israelische Städte jenseits der Grenze bezeichnen viele der Flüchtlinge als verantwortungslos.
„Wir wollen, daß die libanesische Armee in unseren Dörfern die Kontrolle übernimmt, wir wollen keine Parteien mehr“, ruft eine Frau in eine dieser Debatten, wie sie in vielen der überfüllten Schulen geführt werden.
Andere Diskutanten unterstützen hingegen den antiisraelischen Widerstand von Hisbollah und Amal. „Schließlich hält Israel einen Teil des Libanon besetzt“, sagen sie. Angriffe gegen die israelischen Besatzungstruppen in diesem Gebiet finden sie legitim. Aber auch sie geben einiges zu bedenken: „Wir sind schwach. Der Westen und die USA unterstützen Israel. Wir müssen sachlich und vernünftig bleiben. Solche Aktionen wie die Katjuscha-Angriffe auf Israel müssen wir unterlassen“, sagt beispielsweise Chudur, ein Lehrer aus dem südlibanesischen Dorf Dschibshit. „Zur Hölle mit dem Iran und der Hisbollah!“ empört sich eine alte Frau. Ihre Tochter hält dagegen: „Nein, die Mitglieder von Hisbollah sind unsere Kinder und Brüder. Israel benutzt die Parole von der iranischen Unterstützung als Vorwand, um unser Land zu besetzen. Wenn es ihnen um den Iran geht, warum haben sie dann nicht Teheran bombardiert?“ In einem Punkt sind sich die Diskutanten aber überraschend einig: es war eine weise Entscheidung der Regierung, die libanesische Armee nicht zurückschießen zu lassen.
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