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Baskische Begegnungen

Die nördliche spanische Provinz, die keine sein möchte: Eine Reise durch Euskadi  ■ Von Gerd Schumann

Xotil ist der Beweis dafür, daß Tucholsky irrte, als er 1927 in seinem „Pyrenäenbuch“ ein absehbares Ende des sagenumwobenen Euskerra, der einzigen lebenden nicht-indogermanischen Sprache in Westeuropa, befürchtete. Der siebenjährige Xotil liest aus der Fibel. Das Gelesene spricht sich wie geschrieben: Bertsolari ist der spontan dichtende Verssänger, der pilotari schlägt einen harten Lederball gegen die Mauer, während der aizkolari auf einsamen Gehöften für Brennholz sorgt. Alle drei tragen eine schwarze Boina auf ihren schmalen, kantigen Schädeln – fertig ist der typische Baske mit Mütze, bei dem Tucholsky das Gefühl hatte: „Das ist einer für sich!“ Wenn er Basken beschrieb, fielen ihm Seeleute ein: „Ihre Gesichter, ihre ruhige Art, sich zu geben, die selbstbewußte Kraft, die innere Freiheit.“

Die natürliche Grenze, die auf keiner politischen Landkarte steht, verläuft in der Mitte des Flusses Adour. Tucholsky trieb es in den drei Nordprovinzen auf französischer Seite des Baskenlandes um – jenseits des Adour, aber diesseits der Pyrenäen. Euskal Herria beginnt bei Baiona (Bayonnes), und auch die anderen Orte an der Biscaya sind nicht nur alternden Hippies von früher bekannt, sondern gingen jüngst wieder durch die Medien, als in dieser Gegend die Creme der ETA-Führung verhaftet wurde. Biarritz, Saint Jean, Bidart. Joints und vin de table im Wilden Süden.

Zwanzig Kilometer sind es vom Adour bis ins mondäne Strandbad Biarritz und noch einmal knapp zwanzig nach St. Jean de Luz, wo die untergehende Glutsonne Silhouetten von Fischerbooten im roten Gegenlicht zaubert. Kitschpostkarte. Hier bog Tucholsky Richtung Osten ab. Wir nicht.

Wir treffen Isaskun Rekalde, die mit ihren achtjährigen Zwillingstöchtern im französischen Exil lebt. Die 45jährige gilt als „Terroristin“, seit sie einst mit einem LKW vor dem Gefängnis im südspanischen Segovia stand, wie geplant 37 Ausbrecher aufnahm und in Richtung Norden preschte. Sie erreichten die Pyrenäen-Grenze, zu Fuß weiter, verirrten sich in dichtem Nebel. Plötzlich der Befehl „Alto!“ Schüsse fielen, und der Mann neben Isaskun, ein junger Freiheitskämpfer aus Barcelona, brach tödlich getroffen zusammen – hundert Meter entfernt vom nördlichen Teil des Baskenlandes; von der Freiheit, denn 1975 arbeitete die französische Polizei nicht mit Spanien zusammen. Franco lebte noch, wenn auch nicht mehr lange, so daß Isaskuns Prozeß ausfiel. Amnestie.

Aber „Basken und Freiheit“ – baskisch: Euskadi Ta Askatasuna (ETA) – erreichte sie nicht. Ihr Ehemann sitzt wegen ETA-Mitgliedschaft seit Jahren in Paris ein. Sie lebt unter dem ständigen Druck, unerwünschten Besuch von der Gendarmerie zu bekommen. Eigentlich schützt sie nur die französische Staatsangehörigkeit ihrer Töchter vor der Ausweisung, die in 30 Minuten vollzogen wäre. Eine halbe Stunde zur spanischen Grenze, bis Hendaye.

Dahinter liegt Donosti (San Sebastian). „Selbst an einem heißen Tag bewahrt San Sebastian immer etwas Taufrisches. Die Bäume machen den Eindruck, als ob ihre Blätter nie ganz trocken seien, und die Straßen, als ob sie gerade besprengt worden wären. Selbst an den heißesten Tagen ist es auf manchen Straßen kühl und schattig.“ So Hemingways erste Eindrücke in „Fiesta“ Mitte der 20er Jahre, als er nach nur kurzem Aufenthalt von seiner späteren Frau Brett, die just wieder an einem Lover gescheitert war, nach Madrid gerufen wurde. Sein etwas wehmütiger Kommentar: „Nun, das hieß, daß mir San Sebastian durch die Lappen ging.“ Aber natürlich fuhr er. Mit dem Nachtexpreß.

In Luxuslimousinen lassen sich bei den alljährlichen Filmfestspielen die Stars die hundert Meter zwischen Hotel „Maria Christina“ und Kino kutschieren – wie die vielbestaunte Elizabeth Taylor, über deren legendäre Kurzfahrt noch heute erzählt wird. Auftritt vor dem Auftritt... Mensch, Liz, wärst Du doch zu Fuß gegangen!

Hundert oder dreihundert Meter weiter in Richtung Atlantik, und Du hättest unbeschreibliche Gaumenfreuden genießen können, in der Bar „Haizea“ (Wind) gegenüber dem überdachten Fischauktionsplatz, wo die frischesten Meeresfrüchte verkauft werden und als Pinchos auf langer Theke vor hohen Spiegeln landen – leckere Schnittchen, mit Majo und Öl und Knoblauch und Zwiebeln und gut gewürzten Scampis, Sardellen, Calamare.

Viel Freude bereiten auch die in vielen anderen Eckkneipen oder Altstadt-Lokalen auf rustikalen Theken dargebotenen Leckereien – natürlich mit einer Cana oder Txakoli, Bier oder Weißwein. In kleinen Mengen, denn alle Baskinnen und Basken befinden sich auf ständiger Wanderschaft. Lokalwechsel am laufenden Band, jeweils auf ein Schlückchen, ein ständiges Rotieren, Gucken und Quatschen. Ja, Liz, Fußgänger erleben mehr, und leben vielleicht auch gefährlicher, zumal wenn sie zufällig in eine der üblichen Demonstrationen aus den diversen ortsüblichen Gründen – für Unabhängigkeit, gegen Militär, für Referendum, gegen Atomkraftwerke, für und so weiter – geraten und schon mal Gummigeschosse durch die engen Gassen fliegen.

Xabier San Sebastian, 25 Jahre, heißt wirklich so. Als Student der Chemie reagierte er auf den Einberufungsbefehl zur spanischen Armee mit einer formlosen Antwort: „Ich gehe nicht. Und ich mache auch keinen Ersatzdienst.“ Damit gehört er zu den Tausenden Insimissos, den „Ungehorsamen“, wie Euskadis Totalverweigerer genannt werden. „Gegen jeden Militarismus“ seien sie, sagt Xabier, und außerdem sei die spanische Armee eine „ausländische“. Derzeit stehen allein in Navarra dreihundert Insimissos vor dem Richter. Sie erwartet zwei Jahre und ein Tag. Mindestens. Darüber hinaus wurde schon mancher Bürgermeister, der Einberufungslisten junger Wehrpflichtiger nicht weiterreichte, seines Amtes enthoben, wie der von Etxauri Aralar jüngst für sechs Jahre.

Wer durch die drei baskischen Provinzen auf der spanischen Seite der Pyrenäen reist – eigentlich sind es ja vier, doch Navarra wird vom Status der begrenzten baskischen Autonomie innerhalb Spaniens, der Communidad Autonoma, ausgeklammert –, wird an jeder zweiten Häuserwand und jedem ersten Bretterzaun, auf Straßenschildern und Plakaten immer wieder mit der Realität konfrontiert. Fremden fällt es leicht, sich zu verfahren, wenn ehemals zweisprachige Wegweiser nur noch „Irunea“ anzeigen, weil der spanische Name „Pamplona“ übersprüht wurde.

Folglich erreichen wir Navarras Hauptstadt nicht, wo vor sechzig Jahren der ewige Jäger und Macho Hemingway im legendären Torero-Hotel „Montoya“ abstieg und auf der Fiesta dem eleganten und stichsicheren Stiertöter Pedro Romero huldigte. Wir scheitern schon auf halber Strecke in der Nähe von Ordizia, wo Xotil zur Schule geht und aus der Fibel liest. Das „X“ seines Vornamens wird wie „SCH“ gesprochen, das „T“ kurz wie auch das „I“. Schottil. Er lernt seit seinem ersten Schuljahr Euskerra. Vergleichbares hatte es zuletzt unter der Volksfront 1936, aber nie unter Franco gegeben, und wem in der Schule auch nur ein von zu Hause gewohntes baskisches Wort herausrutschte, wurde von ausschließlich castellano sprechenden spanischen Lehrern mit Strafarbeit, Schlägen oder Ecke- Stehen bedacht.

Unterdrückung kann auch bockig machen. Also regierte Franco das Baskenland meist mit Ausnahmezuständen – und ließ besonders dann, wenn er selbst nicht umhin kam, seine Nasenspitze in den Atlantikwind zu halten, jegliche Opposition prophylaktisch in Ketten legen. Euskadi – Zentrum des Widerstands gegen die Diktatur. Die „Guardia Civil“ folterte und mordete und sollte eigentlich nach dem Franquismus entmachtet werden. Das fiel aus.

In Ordizia liegt ihre Wohnkaserne am Rand der Stadt auf einem Hügel, trutzige Burg, umzäunt und ummauert. Die Freizeit des prämienbegünstigten Wachpersonals spielt sich in diesem rechteckigen Viereck ab. Seit dem Kneipenbesuch eines Zivilgardisten, der mit einem Kopfschuß endete, weil der Polizist nicht erkannt hatte, daß er im Baskenland als Besatzer betrachtet wurde, traut sich niemand mehr aus der Kaserne. „Alde Hemendik!“ fordert Herri Batasuna (Vereintes Volk) – die Partei, der ETA-Nähe nachgesagt wird und die bei Wahlen regelmäßig an die 20 Prozent Stimmen erhält: Verschwindet endlich!

„Euskal presoak gure herrira – presoak euskadira“ steht auf dem Transparent, das sich seit Wochen über die Hauptstraße spannt. Die baskischen Gefangenen – gut 500 mögen es sein –, derzeit im weit entfernten Hochsicherheitstrakt von Herrera de la Mancha oder auf den Kanarischen Inseln inhaftiert,

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sollen endlich ins Baskenland verlegt werden, lautet die Forderung. Jedes Jahr um Weihnachten fahren aus dem katholischen Baskenland Dutzende von Bussen 600 Kilometer südlich in das Land Sancho Pansas und führen ihren vergeblichen Kampf für Amnestie. Ein Spezialgefängnis als neue Windmühle.

Und ein Stahlwerk? Spaniens größtes steht in Eskerralda, der linken Seite des Nerbion-Flusses, und die Fremden, wie manche Stahlwerker noch heute genannt werden, scheinen resigniert wie die von Rheinhausen. Was haben sie, die in den Boom-Zeiten vor 20, 30 Jahren aus den armen Regionen des Südens ins Baskenland immigrierten, nicht alles unternommen, um „Altos Hornos de Viscaya“ zu retten. Betriebsbesetzung, Marsch auf Brüssel, Madrid, Streiks am laufenden Band, die Frauen ketteten sich im Betrieb an...

„Unsere Männer schöpften wieder Mut“, beschreibt Begona Bretos eine der Wirkungen. Auch hätten bei den Frauen die gewerkschaftlichen Orientierungen – kommunistisch, sozialdemokratisch, christlich, autonom, trotzkistisch – keine Rolle gespielt. Die Männer schwärmen derweil vom Marsch auf Madrid. „Eine großartige Demonstration“, erinnert sich der Betriebsratsvorsitzende Nestor Alvarez von den KP- orientierten Arbeiterkommissionen (CCOO). Und Betriebsrat Soto, wie der LAB-Autonome Carlos Perez genannt wird, erklärt, warum die 50.000 Leute von der linken Flußseite baskische Fahnen mitnahmen: Madrid sei „Hauptstadt des Landes, das uns unterdrückt und unsere Betriebe schließt“. Geholfen hat das alles nichts. Stahl werde nicht gebraucht und sei zudem zu teuer, verlautbaren Brüssel und Madrid gebetsmühlenartig.

Dabei liegt die galicische Hafenstadt La Coruña nur wenige hundert Kilometer weiter westlich, und die ölverpesteten Atlantikwässer schwappten im Dezember 1992 weit in die Biscaya-Region. „Aegean Sea“ hieß der gestrandete Tankerriese – wer erinnert sich noch an die Namen, zählt die Schiffe, die die Öko-Todesliste der Weltmeere füllen? Meist von schlecht ausgebildetem Billiglohn- Personal gesteuerte seeuntaugliche, verrostete Pötte. Einwandig. Kein dreifacher Stahlmantel, der Umwelt und Hüttenarbeitern so gutgetan hätte.

Das Industriegebiet auf der linken Flußseite stirbt. Wir durchqueren die gegenüberliegenden Villenviertel in Richtung Guernica. Berg-und-Tal-Fahrt durch dichtbesiedeltes Gebiet und auf einsamen Küstenstreifen. Guernica – Gedanken an Picasso und den 26. April 1937, als Nazi-Flugzeuge den Einmarsch der Falangisten in den Sitz der baskischen Regionalregierung blutig vorbereiteten. Euskerra wurde verboten. Euskadi besetzt. Hunderttausende flüchteten nach Francos Einmarsch. Hemingway ging mit der internationalen Lincoln-Brigade. Tucholsky, Fremder im schwedischen Exil, hatte sich nach Beginn der deutschen Barbarei in schwedischem Exil selbst getötet. „Ihr gehört alle zu einer hoffnungslosen Generation“, zitiert Hemingway in „Fiesta“ Gertrude Stein, Protagonistin der lost generation.

Und wir? Xotil liest unverzagt weiter in der baskischen Fibel. Pilotari schlägt harten Lederball mit ungeheuerer Wucht gegen frischgeweißte Mauer. Stahlwerker streiken. Bürgermeister weigert sich, der spanischen Armee die Namensliste mit den Wehrpflichtigen seines Orts zu geben. Wir kochen zusammen in der Elkartea „Sociedad Gastronomica“, einer Genossenschaftsgaststätte, und trinken, bis die Hoffnung kommt.

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