: Das gläserne Wesen
■ Sport und Stasi: Eine unglaubliche Geschichte – aber wahr / Der DSB erwägt nun eine Amnestie der Spitzel
Berlin (taz) – 007 in geheimer Mission. Agenten wie James Bond sieht man in Action-Filmen. Geheimdienst und Sport – ein Drehbuch, welches wiederum das Leben schrieb. Titel: Operation Gold – der Sportler, das gläserne Wesen. Ort der Handlung: Schlafzimmer, Büro – Sportplatz. Es gab kein Tabu: weder die Sexualpraktiken noch das Klima am Arbeitsplatz. Die Stasi war überall.
Stasi und Sport, eine unglaubliche Geschichte. Aber wahr. Im Sport begann die totalitäre Menschenüberwachung weit vor George Orwells „1984“. Von 1953 datiert das erste bisher entdeckte Dokument, in welchem die Stasi ihr Interesse für den Sport bekundete. 140 solcher zentralen Weisungen, sind bis dato bekannt. 90.000 bis 100.000 Mitarbeiter spitzelten hauptamtlich fürs Ministerium für Staatssicherheit (MfS).
„Ein irrsinniger Laden“, sagt Dr. Hansjörg Geiger, „und ein Beweis für die Sicherheitsmanie eines Regimes, das wußte, daß es in Wirklichkeit nicht von den Bürgern getragen wurde.“ Geiger ist Direktor jener Institution, welche die ehrenvolle Aufgabe besitzt, die zweifelhafte Hinterlassenschaft der Stasi zu verwalten – die Gauck- Behörde. Ein Riesenunternehmen mit 3.000 Mitarbeitern, das sich auf elf Gebäude in Berlin verteilt. Das DDR-Erbe – ein 180 Kilometer langer Aktenberg. Willkürlich zusammengetragenes Material, das dem Schlund des Reißwolfes entgangen ist. Vieles wurde vernichtet. So habe der Deutsche Turn- und Sportbund (DTSB) der ehemaligen DDR seine Akten in Ostberlin „stubenrein bereinigt“. Nichts wurde so angelegt, daß es von jedermann genutzt werden konnte.
Selbst das gerettete Papier würde weiter in den Archiven schlummern, wenn nicht Opfer, Behörden, Wissenschaftler – 1,8 Millionen sind es bis dato – Antrag auf Einsichtnahme stellten. Wie die Wühlmäuse fressen sich die Gauck-Nachlaßverwalter durchs Papier, bereiten Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen der Nachwelt zur Lektüre auf. Der Film erschließt sich wie ein Puzzle.
Meister Zufall führt Regie. Wer keinen Antrag stellt, erfährt nichts. Es dauerte drei Jahre, bis sich Hans Hansen, Präsident des Deutschen Sportbundes (DSB), sowie sein Vize Manfred von Richthofen zur Aufklärungsarbeit nach Berlin bequemten. Sie erfuhren, was eine einzige Frau in wenigen Monaten recherchierte. In den Stadien dieser Welt wimmelte es von Spitzeln unter der Tarnkappe von jedem, der irgendwie mit Sport zu tun hatte: Sportler, Funktionäre, Kampfrichter, Trainer, Ärzte, Journalisten, Partner, Eltern. Ein Beispiel: Auf 380 internationale Gäste beim Turn- und Sportfest in Leipzig kamen 120 IM, inoffizielle Mitarbeiter, wie Spitzel im Stasi- Jargon hießen. Oder: Präparate, welche Sportmediziner 1980 zu den Olympischen Spielen nach Lake Placid per Flugfracht transportierten, wurden als „Diplomatengepäck“ deklariert, damit sie der „Feind“ nicht inspizierte.
Die Stasi war, so Geiger, „Schild und Schwert der SED“. So war es, naiv oder unverfroren zu behaupten, wie es maßgebliche Sportfunktionäre hüben wie drüben gleichermaßen taten, die Stasi hätte den Sport nicht im Visier gehabt. Kein anderes gesellschaftliches Subsystem trug zum Renommee der DDR soviel bei wie die programmierte Medaillenflut. Gleichzeitig hatten Honeckers „Botschafter im Trainingsanzug“ Außenkontakte wie kein anderer DDR-Bürger.
Doping – die Übermacht der DDR-Sportmacht
Das MfS befürchtete dreierlei: Zum einen die Abwerbung seiner staatstragenden Leistungsträger. Außerdem den Verrat sportwissenschaftlicher Erkenntnisse, Trainingsmethoden, -geräte und „unterstützender Mittel“ (ist gleich Doping). Und drittens den drohenden Gesichtsverlust, falls durchgesickert wäre, daß die „DDR in nicht unerheblichem Maße dopte“ (Geiger). Keine Frage, was die Übermacht der DDR-Sportmacht ausmachte. Hansjörg Geiger: „Der DDR-Sport war besser als andere im Nachweis von Doping und aufgrund feinerer Meßmethoden. Er konnte maximaler dosieren und näher an den maximal späten Zeitpunkt herangehen.“ Doping war geheime Kommandosache, von oben sanktioniert.
Das Lügengebäude beginnt allmählich zu bröckeln. Per Zufall: Weil aus der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, die sich mit der DDR-Geschichte befaßt, die Idee kam, auch den Sport unter die Lupe zu nehmen. Das war im Frühjahr. Mit einer systematischen Aufarbeitung der eigenen Geschichte tut sich der deutsche Sport schwer. Das gilt für die Nazi-Spiele von 1936, das gilt für das andere autoritäre Regime. „Wenn man bedenkt, welche gesellschaftliche Rolle der Sport als Imageträger der DDR gespielt hat“, sagt Geiger, „war die Anfrage vom offiziellen Sport – vorsichtig formuliert – nicht sehr groß.“ Das DSB-Präsidium hat zwar seine Spitze überprüfen lassen, damals flog auch einer auf – Gerhard Junghähnel. Aber NOK wie auch andere Verbände haben chronisch versäumt, kräftig Kehraus zu betreiben.
Hans Hansen schließt Spitzel-Amnestie nicht aus
DTSB-Präsident Manfred Ewald behauptet heute noch, die Stasi sei für den Sport eine Nummer zu klein gewesen. Wohlwissend, daß das Gegenteil der Fall war. Hansjörg Geiger: „Die Stasi wußte einfach alles.“ Westdeutsche Sportfunktionäre nahmen an – oder hofften (?) – alle kompromittierenden Akten seien vernichtet. Der DTSB hatte ja sein Zentralarchiv gesäubert. Hier wie da wurde die Omnipräsenz der Stasi unterschätzt. Geiger: „Keiner hat damit gerechnet, wie detailliert das MfS arbeitete.“ Die Schöne-heile- Welt-Strategie wird so nicht mehr funktionieren. Zwar hatte Hans Hansen just an demselben Tag, als Hansjörg Geiger der Enquete- Kommission Einblick in die Manipulationsmaschinerie der Stasi gewährte, in einer Generalamnestie alle Osttrainer von jeglichem Doping-Vorwurf reingewaschen. Doch der Druck wächst, je dichter das Puzzle wird. Die Folge: In einer Präsidiumssitzung beschäftigte sich der DSB mit dem Thema. Das Ergebnis – ein Thesenpapier zur „stufenweisen Aufarbeitung der Vergangenheit“. So sollen jetzt alle vom DSB angestellten Bundestrainer sowie alle Mitarbeiter in sportwissenschaftlichen Instituten überprüft werden. Denselben Rat erteilt der DSB Fachverbänden und Olympiastützpunkten. AthletInnen legt der DSB nahe, sich zu outen. Eine Amnestie für die Bespitzelung unter Athleten – wie Heike Drechsler bei Marlies Göhr – schließt Hans Hansen nicht aus: „Die Amnestie bei Doping von Athleten am 1.1.1992 war eine hervorragende Entscheidung.“
Die Gauck-Behörde wird qua Auftrag weiterforschen. Ferner schnüffeln bereits viele Spürhunde auf Stasi-Spuren. Hansjörg Geiger: „Selbst wenn der Sport die Augen verschließen wollte, er wird nicht mehr zur Ruhe kommen.“ Cornelia Heim
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