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Toggenburger Kosmologie

Welt im Winkel. Peter Webers Debüt „Der Wettermacher“  ■ Von Sibylle Cramer

„Die Lebensgeschichte und Natürlichen Ebentheuer des Armen Mannes in Tockenburg“ handeln vom Leben, Denken und Sterben Ulrich Bräkers, Sohn eines Salpetersieders, geboren 1735, gestorben 1789 in Wattwil. Im Leben brachte er es nicht weit, vom Söldner bis zum Bankrotteur im Baumwollhandel. In der Literatur hingegen schaffte er aus eigener Kraft den Aufstieg vom ABC zu Shakespeare, den er falsch buchstabierte, aber besser verstand als die gelehrte Welt seiner Zeit. Seine Tagebücher sind das Beispiel eines vor seiner Zeit zu Bewußtstein gekommenen Kleinbürgertums.

Ulrich Bräker schrieb sich seine arme Seele aus dem Leib. Sein Toggenburger Land ist Lebenskampfgebiet, das Schreiben reine Notwehr. Die Verwandlung Toggenburger Lebens in eine sinnreiche, schöne und komische Geschichte, das besorgt jetzt, 200 Jahre später, der 25jährige Peter Weber. Den Rückblick auf Ulrich Bräker legt sein Roman nahe, denn nach Bräker setzt sich Weber als Mythologen des Toggenburg ein und damit als poetischen Historiker der ersten Stunde.

Eine Bibel. Weber tut so, als wäre er der Liebegott des Toggenburg. Die ersten Romankapitel sind Paraphrasen der biblischen Genesis. Das Toggenburger Land entsteht aus Feuer und Wasser, das der erzählende Wettermacher heraufbeschwört. Beim Bau des Himmelszeltes verläßt er sich auf Gerüchte. Mit ihm endet sein Schöpfungsbericht und beginnt der alttestamentarische Teil seiner Toggenburger Universalgeschichte.

Universalisten sind Spezialisten der Gleitflugsportarten in der Erzählkunst. Wenn Weber den Gipfel des Chäserugg ins Auge faßt, landet er in der weiten Welt, denn die besteht aus dem Inland und dem Ausland. Das Glarnerland, nach allen Regeln des Wortspiels durchdekliniert, ist fast dasselbe wie das „arabische Afrika“. Wenn er aber sein Fernrohr herumschwenkt, hat er Dohlen vor der Nase, „rabenschwarz, federleicht, im Aufwind segelnd“, die sich um „Menschliches scheren“, Spiegelbilder seiner selbst als Künstler.

Die Literatur des Partikularen hat im 19. Jahrhundert diese Kunst des Proportionentauschs in der Person Adalbert Stifters entwickelt. Die Welt, die erzählt wird, ist ein Winkel. Doch dieser Winkel ist vollständig beschreibbar und repräsentiert im Ausschnitt das Ganze, ein Detailrealismus mit universalem Anspruch. Peter Weber ist als Humorist dessen ketzerischer Erbe. Er tut so, als sähe, erführe, begriffe, wisse und erzähle er alles.

Er ist Toggenburger Kosmologe, der Himmel und Erde einrichtet, das Meer und die Toggenburger Feste, das Wetter und die offizielle Wetterwarte auf dem Säntis. Er ist der poetische Geologe Toggenburgs, der die Gesteinsformationen aufnimmt und ihre Geschichte ermittelt. Er ist der Paläontologe des Toggenburg. Die Vor- und Frühgeschichte des Landes wird hemmungslos dichtend zurückverfolgt bis zu den Etruskern, bis ins Ägyptische und Babylonische. Eine Weile liegt das Toggenburger Wattwil an Euphrat und Tigris.

Weber ist der Toggenburger Historiker. Er erzählt die politische Geschichte von der Herrschaft der Grafen von Toggenburg bis zum Verkauf an das Kloster St. Gallen, zum Toggenburgerkrieg und der Gründung des Freistaates. In der Gestalt der Familiengeschichte Abderhalden erzählt er die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Toggenburg. Bräkers dörfliches Wattwil verwandelt sich in eine amerikanische Schweiz mit Hochhäusern und dichtem Straßennetz. Aus den Kleinbauern, Tagelöhnern und Handwerkern werden Hoteliers, Skilehrer, Industrielle, Verwaltungsbeamte.

Abraham I. Abderhalden vollzieht den Schritt vom Webhandwerk in die Webindustrie. Seine Nachkommen besitzen Textilfabriken in Wattwil. Nach der Vergeudung ihres Vermögens und dem Rückfall ins Kleinbürgertum ziehen sie als Gastwirte ins 20. Jahrhundert ein. Deren letzter und der erste, der auf- und ausbricht aus dem Toggenburg, ist der Vater des Erzählers, Melchior Abderhalden, seines Zeichens Informationsbeamter auf dem Züricher Hauptbahnhof. Seine Mutter stammt von Webern aus dem Mitteltoggenburg ab. Aber sie kommt von weither, denn ihre Vorfahren vertauschten den Webstuhl mit Musikinstrumenten.

Im Bund von Melchior und Ute Abderhalden kreuzen sich Winkel und Welt, Fernweh und Heimweh. Das ist die literarische Ausstattung der Wiege des Erzählers. August Abraham Abderhalden ist freilich nicht das natürliche Kind von Melchior und Ute Abderhalden. Sie adoptieren das Findelkind, ein Zwitterwesen, zweigeschlechtlich geboren und durch Operation halbwegs normalisiert, den Wettermacher.

Am 31. März 1990, seinem 20. Geburtstag, beschließt der Sohn des Informationsbeamten Melchior Abderhalden höherer, ja höchster Beamter des Informationswesens zu werden. Statt der Bundesbahn-Mütze, die ihm sein Vater schenkt, ergreift er Feder und Tinte und schreibt auf, wer er ist. Der Schreibakt ist doppelter Schöpfungsvorgang, Weltgeburt und Selbstgeburt, Toggenburger Epos und Künstlergeschichte August Abraham Abderhaldens. Satz für Satz entsteht ein gewaltig sich ausbreitender menschlicher Organismus, denn August Abraham Abderhalden ist der Erzähler des Romans und sein Erzählkörper. Er bewegt als Geschichtsleib die Geschichte des Toggenburg durch die Zeit vorwärts.

Sie wird ihm regelrecht auf den Leib geschrieben. Das Kind wurzelt in der Landschaft um die Thur. Seine Nervenfasern, seine Sinne, seine Träume sind direkt verknüpft mit dem Wurzelwerk in den Wäldern um die Thur, in denen die Trolle, die Hexen, die Feen hausen. Der Fluß ist sein Erzählfluß. In ihm schwimmt er ins Leben. Es führt aus den mythischen Gegenden der Kindheit in die kahlere und die vernünftigere Welt von Geschichte und Gesellschaft, Schule und Kirche. Der menschheitsgeschichtliche Eintritt in den Zivilisationsprozeß fällt zusammen mit dem Ende der Kindheit August Abraham Abderhaldens.

Bis hierher wird die Geschichte naturalisiert und als organischer Prozeß dem Erzähler auf den Leib geschrieben. Der physiognomische Blick des Erzählers auf den Stoff sichert der disparaten Wirklichkeit ihren festen Umriß und ihren Charakter als Ganzes. Die Auflösung dieser Einheit von Außen und Innen ist ein geistig-geistlicher Vorgang.

August Abraham Abderhalden trennt sich von Zwinglis Wortlehre und wandert aus in den Freisinn der Kunst. Damit endet innerhalb der Toggenburger Romanbibel das Neue Testament. Innerhalb der Bibelanalogie seiner Erzählung rückt der Wettermacherbericht in die Position eines Offenbarungstextes.

„Zungenmenschen“ ist das betreffende Kapitel überschrieben. So wie in diesem Doppelporträt von geistlicher und geistiger Reformation organisiert der Autor den Roman in Teil und Totale. Um einen Begriff herum entwickelt er Kapitel für Kapitel Sinnbilder des Erzählens. Sie teilen mit dem Denkbild die Zwiegestalt von Reflexion und Anschauung und deren Zusammenführung in sinnlichen Formen des Denkens.

Die Denkbild-Form ist ein Erkennungsmerkmal des jungen Autors. Peter Weber ist ein gleichermaßen reflektierter und kraftvoll sinnlicher Erzähler. Allerdings läßt der Roman im zweiten Teil erkennen, mit welcher Anstrengung die Tendenz zur dürren Allegorie unterdrückt werden muß.

Dennoch, dies ist ein ganz außergewöhnliches Erzähldebüt. „Der Wettermacher“ ist ein Glücksfall, ein schönes, heiteres, kluges Buch.

Peter Weber: „Der Wettermacher“. Roman. Suhrkamp Verlag, 307 Seiten, geb., 32 DM

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