Nachruf: Erinnerungssplitter
■ Von Wolfgang Kubin
Am 7. Oktober dieses Jahres tötete der Lyriker Gu Cheng zunächst seine Frau und anschließend sich selbst. Cheng, Exil- Dichter und einer der wichtigsten chinesischen Lyriker, hatte als Gast der Heinrich-Böll-Stiftung und des DAAD auch in Deutschland gearbeitet. Der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin hat Gu Cheng und seine Frau für den DAAD betreut.
Gu Cheng und Xie Ye sind tot. Sie waren zunächst vom März 1992 bis zum April 1993 Gäste des DAAD in Berlin gewesen. Er schrieb seinen Gedichtzyklus „Peking. Eine Erinnerung“, sie an ihren Memoiren. Beide schienen dies eine Jahr guter Dinge.
Sie hatten dann bis Mitte August in meiner Berliner Wohnung die Zeit zu überbrücken versucht, um anschließend ein dreimonatiges Stipendium der Böll-Stiftung in der Eifel antreten zu können. Bis dahin schrieb Gu Cheng fieberhaft an seinen „Confessiones“. In der Eifel kam es dann zur Krise.
Über USA nach Neuseeland zurückgekehrt muß sich Xie Ye zur Trennung entschlossen haben. Beide wohnten getrennt. Zwei Wochen später hat Gu Cheng am Nachmittag des 7. Oktober Xie Ye auf dem Anwesen der Schwägerin mit einer Axt erschlagen und sich anschließend erhängt. Sie hinterlassen einen bald sechsjährigen Sohn.
Was wohl nur wenige wissen: Gu Cheng war ohne Xie Ye nicht lebensfähig und auch als Dichter undenkbar. Sie hat alles niedergeschrieben und redigiert, was ihn berühmt gemacht hat. Er konnte nur durch sie sprechen, mit ihr hatte er gleichsam seine Sprache und damit sich selbst verloren. Das wußte er, aber sicherlich auch sie. Die Tat scheint weniger aus geistiger Verwirrung erfolgt zu sein, sie war wohl vielmehr die logische Konsequenz ihrer Beziehung von Anfang an.
Ich sehe ihn noch in Kreuzberg vom Einkaufen zurückkommen. Plötzlich hatten die täglichen Dinge für ihn eine andere Dimension bekommen. Sie sei wie seine Gefangene gewesen, er habe sie wie eine Sklavin behandelt, von Ort zu Ort schlimmer. Zu guter Letzt habe sie in Auckland mit niemandem reden oder telefonieren dürfen. 24 Stunden Bewachung. Auch früher schon habe nur sein Wort gegolten, so habe er ihr untersagt, mit dem Kind zusammen zu sein.
Während Xie Ye nach der Rückkehr immer mehr zu verfallen beginnt, wird Gu Cheng immer ruhiger. Freunde versuchen zu helfen, Xie Ye will mit dem Kind fliehen. Andere greifen ein, man überredet Gu Cheng zu einer Trennung, er willigt ein und wohnt bei der Schwester. Er lernt Autofahren, Schreibmaschineschreiben. Er bittet Xie Ye eines Nachmittags telefonisch um Fahrunterricht. Er erwartet sie mit einem Buch in der Hand auf dem Parkplatz, sie steigt aus, er hat eine Axt vorbereitet, er schlägt sie von hinten, der Schädel ist gespalten, der Rücken voller Wunden. Xie lebt noch, sie keucht schwer. Er bereitet an einem Baum das Seil vor und geht zum Händewaschen ins Haus. Er herrscht seine Schwester an, er habe Xie Ye getötet und werde sich jetzt das Leben nehmen, sie solle nicht versuchen, ihn aufzuhalten. Er erhängt sich. Die Schwester ruft die Rettung und schneidet den Bruder vom Baum, auch er lebt noch und atmet schwer, doch gemäß seiner Anweisung versucht sie nicht, ihm zu helfen. Xie Ye erliegt zwei Stunden später ihren Verletzungen im Krankenhaus.
Daß Gu Cheng, der mit seinen Selbstmordversuchen immer wieder gescheitert sein soll, eines Tages nach Wunsch Hand an sich legt, ist nachvollziehbar. Aber warum hat er zuvor seine Frau getötet und damit seinem Sohn die Mutter genommen? Bei der Beantwortung dieser Frage hat die Legendenbildung bereits begonnen, so wie einst bei Petra Kelly und Gert Bastian: Zeitungen in den USA und auf Neuseeland sprechen von einem tragischen Liebestod, ausgelöst durch einen Dritten, den Xie Ye in Berlin kennengelernt haben soll. Hier wird wieder das Opfer zum Täter gemacht. Bei den Vorformen der Überwachung, die Gu Cheng bereits in Berlin walten ließ, ist ein Dritter ganz undenkbar. Wonach es Xie Ye in Berlin, wo Gu Cheng seinen Selbstmord bereits geplant haben soll, verlangt haben mag, war die Wärme des Mitleidens und des Gesprächs. Andere mögen da wacher gewesen sein als ich, ich ließ mich blenden durch die äußere Form, die Gu Cheng perfekt beherrschte.
Die Wahrheit wird woanders liegen. Der kognitive Prozeß am Ende der „Confessiones“ mag die subjektive Erkenntnis eines vermeintlichen Betruges und eines selbstverschuldeten Verlustes gewesen sein. Gu Cheng hatte, wie er in Berlin erfahren mußte, Yinger [seine Geliebte, d. Red.] verloren, darum zögerte er vielleicht die Rückkehr hinaus und ließ verkünden, die Rückkehr sei sein Tod. Xie Ye, die seine Sprache und seine Schrift war, hatte er bis zur Erschöpfung ausgebeutet. Was ihr an Kraft blieb, wollte sie dem Kind schenken. Gu Cheng stand nun allein da, sein Harem hatte sich geleert, er würde das Leben ganz von vorn erlernen müssen. Dazu sah er sich nicht in der Lage.
Doch wie erklärt sich die Grausamkeit? Hatte es Gu Cheng nicht immer nach dem absolut Schönen und Wahren verlangt? Hatte er das nicht in Xie Ye gefunden? Er hat nicht im Affekt gehandelt, er hat den Mord geplant. Doch warum läßt er sie trotzdem in ihrem Sterben allein und geht sich die Hände waschen? Warum riskiert er, der sich den Tod immer mit ihr gewünscht hat, im Tod doch getrennt von ihr zu sein? Drei Tage nach der Tat ist seine Asche im kleinen Kreis auf seinem Gehöft beigesetzt worden.
Das Problem bleibt: Warum sind diejenigen, die am meisten nach Liebe verlangen, nicht in der Lage, Liebe zu geben? Warum gehen sie, denen Schönheit alles war, so unschön aus der Welt? Gu Cheng ist nur ein Beispiel von vielen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen