: Die goldene Europa
Wir basteln uns ein Grenzgängerhäuschen: viel Europhiles von 114 Künstlern aus 16 Ländern (mit satten 94 Projekten)
Europa hat Grenzen: im Norden das Nordkap; im Westen das Slea Head-Kap von Irland, im Süden eine kleine Insel bei Kreta, Gavdos geheißen. Nur die Grenze im Osten ist vager. Irgendwo östlich der Wasserscheide des Ural liegt Asien, und gerade mal 60 Meter trennen die griechische Insel Psema von der Ortschaft Yalan im Südwesten der Türkei. Einen Steinwurf entfernt.
Ottmar Hörl, Europas bekanntester Kamerawerfer, will eine Kamera hinüberwerfen. Er hat sich für sein Projekt ein sechsmonatiges Wurftraining vorgenommen und anschließend eine Reise auf die unbewohnte griechische Vogelinsel. Seine Kameras flogen fotografierend bereits von Brücken und Hochhäusern oder waren timex- mäßig an Radnaben gezurrt. Entsprechend gleicht Hörls Atelier einer Aservatenkammer fürs Finanzamt: Umklebte, zerstörte Spiegelreflex-Kameras waschkörbeweise, den Steuereintreibern zum Beweis, daß er keinen Handel mit Fotoapparaten betreibt, die er gewöhnlich aus Fenstern und nun von einer Insel wirft (nebenbei verursacht er dabei prima Fotos).
Hörls Projekt, der Inselwurf, ist Teil einer Sammlung von Projekten, die Künstler der von Zeus entführten und vergewaltigten Europa widmen. Initiiert vom beliebten Adabei Karl-Heinz Schmid und von Gabriele Lindinger, die gemeinsam einen Regensburger Kunstverlag betreiben, erhielten sie Reaktionen von 114 Künstlern aus 16 Ländern mit 94 Projekten für Europa. 114 Künstler ohne Ausstellung – dafür ein „Ideen- Buch“ für Europa mit dem treffenden Titel: „Größenwahn“.
Nicht 60 Meter zwischen Asien und Europa, sondern 67 Meter nordwestlich von Helgoland (Island einrechnend) vermutet Bogomir Ecker das Zentrum von Europa. Dort will er eine Insel aufschütten lassen – auf ihr möge sich das „Ohr Europas“ befinden. Andere wollen in wieder anderen Zentren Europas Händeabdrücke sammeln, Europatempel bauen, Grenzgängerhäuschen bauen – symbolische Monumente überall; jede Kunsttat eine gute Tat. Selten aber: eine gute Idee. Die überzeugendste stammt ausgerechnet aus einer Werbeagentur, die für den Buchsponsor Lufthansa arbeitet: „Europa City“, Europa als Stadtplan von Berlin, Bernau ist Helsinki. Potsdam ist Lissabon. Teltow ist Barcelona, Lichtenrade ist Rom. Pankow ist Bonn, Heinersdorf ist Berlin. Paris ist Charlottenburg, Prag Hoppegarten – Europa als Konglomerat von Vororten.
Künstler pointieren seltener. Rob Scholte signiert ein Schmierblatt: 7 dummme Ideen vom kollektiven Selbstmord der Europäer bis zum Abtrag der Bergspitzen. Kinderkram. Auch Ingo Günther will die Alpen planieren, als Fundament für einen 5.200 Kilometer langen Schriftzug „Europe“ (damit was bleibt, falls der Wasserspiegel steigt...). Peter Fends globale Nachrichtenanalysen scheinen ihm selbst auf die Nerven zu gehen, nun liebt er Hamlet und erklärt Dänemark zum „stärksten Land der Welt“. Thomas Barth verordnet, worunter er und seine Kollegen am meisten leiden: „Amnesie für Europa“. (Guter Einfall: Die jeweils bewölkten Teile von Europa als Ruhezonen für den Gedächtnisschwund.)
Manfred Schneckenberger höchstselbst jammert die Einführung: Kunst dürfe nicht unterhalten, Kunst sei amerikanisch, Kunst handele nicht von, sondern längst mit Kunst. Nach Anselm Feuerbach: „Ausstellungen sind krankhafte Beunruhigungsanstalten.“ Und nun also als Aufgabe die Rettung der Festung Europa: Hier bilde Kunst noch Gegenkräfte zum Verlust der Sinne. (Dialektisch, würden wir unser Sinne nicht verlieren, bräuchten wir keine Kunst?) Kunst bewahre die nationale Identität, sei Wahrheit, usw.
Aber: Die schöne Europa wurde aus Syrien entführt. Gloria Friedmann will einen Stier und eine Syrerin zum Erhalt einer Asylberechtigung nach Strasbourg transportieren lassen. Wolfgang Betke im marokkanischen Tanger einen Kongreß über soziale Identität veranstalten, dessen Ergebnisse eingeschweißt und auf einer Auktion meistbietend versteigert werden. Hans Zolper gründet eine Europäische Cultur Partei, Jürgen Claus gründet ein Sonnenparlament mit Sonnenvolksvertretern für die Volksenergie Sonne. Claus Bury will Bäume entlang der alten Grenzen pflanzen, damit zusammenwächst, was zusammmengehört. Geradezu erfrischend, daß Mario Reis zu gern das Altmühltal links und rechts des Rhein-Main- Donau-Kanals in einen japanischen Steingarten verwandeln würde. Künstler für Europa: ein Buch mit Witz (gelegentlich) und Naivität (zumeist) – von Künstlern, die auch sehr anmutige Briefe für Europa schreiben können: „Lieber Karl-Heinz Schmid, mir geht es schlecht, ich kann im Augenblick nicht arbeiten. Dein Ulrich Meister.“ Arnd Wesemann
„Größenwahn, Kunstprojekte für Europa“. Verlag Lindinger + Schmid, Regensburg 1993, 260 Seiten, 88 DM.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen