: Versunkene Träume in einem fremden Land
■ Viele türkische Senioren fühlen sich weder hier noch in der Türkei zu Hause / „Halk Kösesi“ ist einer der wenigen Senioren-Treffpunkte / „Heimat“ existiert für sie nicht
An einem Tag im Sommer des Jahres 1967 kam ein Fremder in ein gottvergessenes Dorf in der Türkei, wo es weder Elektrizität noch Wasserleitungen gab. Er erzählte den Menschen im Ort ein Märchen von einem blühenden Land, in der die Erfüllung aller Wünsche nur von der eigenen Arbeit abhinge, in der jeder, der jung und kräftig sei, gebraucht werde.
„Als ich nach Westdeutschland kam, lud uns der Firmenchef zu einem Festessen ein“, erzählt Hüseyin Özmentekin von seinen ersten Eindrücken im Wirtschaftswunderland. Die Arbeit dort sei so hart gewesen, daß er wenige Jahre später beschloß, mit dem Bus nach Berlin zu fahren, um einen Neuanfang zu wagen. Mit vom Arbeitsamt bereitgestellten Überbrückungsgeldern wurden ausländische Arbeitsimmigranten in die damals unter extremem Arbeitskräftemangel leidende Stadt gelockt. Auch hier wurden sie freundlich empfangen, zumindest zunächst. Aus dem anfänglichen Interesse sei jedoch bald Skepsis, Ablehnung und offene Diskriminierung geworden. Inzwischen sind sie alt geworden, die in der ersten Generation in Deutschland lebenden Immigranten. Ihre Zeitverträge wurden zunehmend in Dauerverträge umgewandelt, erbrachten die sogenannten Gastarbeiter doch nach einer kurzen Anlernphase eine relativ hohe Leistung. Sie erfüllten die Aufgaben, die sonst niemand auf sich nehmen wollte. Aus dem zeitlich begrenzten Lebensabschnitt in Deutschland wurde ein dauerhafter Aufenthalt, bis die Existenzgrundlage für die Rückkehr in die Heimat gesichert sein würde.
Doch nicht alle Jugendträume erfüllten sich. Noch immer hausen viele der einst nach Deutschland eingewanderten Türken in feuchten Altbauwohnungen. Knapp die Hälfte von ihnen ist mit Wohnraum unterversorgt, belegt eine Studie und von DGB und Paritätischem Wohlfahrtsverband. Keiner will diese Menschen haben – das haben sie mit ihren Behausungen gemein. „Weder hier noch in der Türkei habe ich einen Platz. Wir wissen nicht, wo wir hingehören“, sagt Yusuf Kaya, der 1972 nach Berlin gekommen ist. In ihrer früheren Heimat gelten die Arbeitsimmigranten inzwischen als „Deutschländer“, in der Bundesrepublik werden sie immer wieder als „Ausländer“ abqualifiziert. „Die schönste Zeit meines Lebens habe ich hier verbracht“, so Tokgöz. „Akzeptiert werden ich und meine Familie nicht.“
Heute gelten 16,7 Prozent der Arbeitsimmigranten als einkommensarm. Der Abbau der Berlin- Subventionen habe zu Arbeitsplatzkürzungen bei älteren und unqualifizierten Arbeitnehmern geführt, so der Leiter der Ausländerberatungsstelle des DGB, Cinar. „Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote bei Ausländern doppelt so hoch wie bei Deutschen.“ Zwar erhalten die meisten nach ihrer Entlassung eine Abfindung, leben aber fortan von der Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe – eine Altersversorgung wird wegen unzureichender Erwerbsunfähigkeit oder mangelnder Beitragszahlung von der deutschen Rentenkasse nicht immer gewährt.
Da die traditionellen Großfamilienstrukturen in Deutschland nicht mehr funktionieren, fallen viele in ein doppeltes Vakuum. „Bisher kannte ich nur den Weg von und zur Arbeit. Manchmal haben wir noch Freunde besucht“, erzählt Tokgöz. Nach seiner Entlassung habe er plötzlich vor der totalen Leere gestanden. Eine Verbesserung der Lebensqualität durch soziale Integration können sich die alten Männer nur in ihrem türkischen Kreis vorstellen. Den Kontakt zu früheren deutschen Arbeitskollegen haben sie verloren, so daß sie häufig ihre Deutschkenntnisse vergessen. So wird jeder Gang zu einer Behörde zunehmend problematisch.
Der Begriff „Heimat“ existiert für sie nicht. „Hier sind unsere Familien, was sollen wir in der Türkei?“ Aber in Berlin fühlen sie sich auch als Fremdkörper. „Der einzige Ort, wo wir uns zu Hause fühlen, ist der Treffpunkt „Halk Kösesi“, so einer der alten Männer, und er erinnert sich an die Worte eines Fremden, der einst in sein gottverlassenes Dorf gekommen war, um ihm und seinen Freunden von einem Land zu erzählen, in dem jeder Mensch die gleichen Rechte habe. Christine Schiffner
Treff für türkische Senioren „Halk Kösesi“, Crellestraße 38, Telefon: 781 30 22
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