: Der Einsame küßt sich selbst
■ Archaische Handschrift erkennbar: Orphtheater-Werkschau im Tacheles
Am Anfang war das Wort – an das sie nicht glauben! Für das Ensemble des Orphtheaters sind es gerade Worte, die den Zugang zu den „unbewußten Schichten“ menschlicher Existenz verhindern. „Nicht die Sprache, sondern der Körper ist das Zentrum unseres Theaters“, beschreibt Regisseur Thomas Roth die Orph-Arbeit. So nähert sich die Orph-Truppe mit ihrem klangbildlichen Bewegungstheater assoziativ und spielerisch den Wurzeln gesellschaftlichen Übels und dem Unterbewußten.
Ein „authentisches Spiel“ als „Gegenentwurf“ soll es laut Konzept sein, eines, das „Zukunft erfindet“, „Freiräume entdeckt“ und die „Fähigkeit entwickeln soll, das Schöne zu leben“. Kein Zweifel: Sie glauben an ihre Utopie. „Wo, wenn nicht auf dem Theater soll man denn noch Utopien zeigen?“ entgegnet Roth zweifelnden Fragen. Im 89er-Rausch im wesentlichen aus dem Pantomimenensemble Prenzlauer Berg entstanden, versucht die Gruppe mit stilistisch völlig unterschiedlichen Produktionen die Hoffnung auf eine bessere Welt am Leben zu halten.
Ein Traum, der nur mit (Alp)- Traumbildern lebendig werden kann. Konsequent setzt die Gruppe in ihrer Theaterarbeit, die noch bis zum 13. März in der Werkschau im Tacheles zu verfolgen ist, Bilder und Fragmente (nicht aber fertige Theatertexte) von Dichtern, Denkern, Surrealisten, Moralisten und Subkultisten um. Von Rimbaud über Lautréamont, Sappho und Brecht bis zum japanischen Theater und zur spannungsreichen Verbindung von Tschechow mit Charles Bukowski reicht der Bilderbogen ihrer Vorlagen. So unterschiedlich die einzelnen Inszenierungen sind, so „eigen“ ist doch das Spiel. Fast antagonistisch stehen beispielsweise die beiden 1992er-Inszenierungen „Maldoror“ und „Fatzer“ zueinander, ähnlich gegensätzlich ist die Spielweise – und doch ist eine archaische Handschrift zu erkennen.
Das grobmotorische Stampfen und Schlagen auf Stahlplatten und -wänden, die nervraubende, rasende Formierung und Entgleisung der „Masse Mensch“ im Stückfragment „Fatzer“ (als Querverweis in der Aufführung skandiert), dieser zerschmetternde Ausbruch im Gestus der „RA.M.M/Zata“-Arbeit ist die eine, industrielle Seite der Urwüchsigkeit. (Und die weniger geglückte!) Die malerische Melancholie und ungelenke Derbheit in „Maldoror“, im osteuropäischen Theater wurzelnd und hier vergleichbar mit den Inszenierungen von „Teatr Kreatur“, machen den phantastischen, surrealen Part der archaischen Körpersprache aus.
Doch die „Vergangenheit“ der Bühnenatmosphäre über Kerzen, Fackeln, rostigen Requisiten und Kostümen, nicht zuletzt auch über marionettenhafte Bewegungsabläufe transportiert, verbindet sich unauflöslich mit dem Heute. Unter endlosem Starkstrom-Sirren aus den Lautsprechern verweben sich die Assoziationshandlungen und (flüchtigen) Elemente modernen Tanzes zu einem wüsten Crescendo moderner Existenz. Zum feurig-rußigen Finale (nachdem die Zuschauertribüne dem Geschehen gleich zweimal näher gebracht wurde) beherrscht die Repetition eines denkwürdigen Marsches die Sandbühne: Beim Aerobic-Drill mit Militärkommando und -schritt, untermalt von liturgischen Gesängen, werden die Gehetzten beiläufig und kalt erdrosselt. Als lichter Traum hingegen schwebt „Psappha Epiphanis“ (1993) im aufwendigen Bühnenbild zwischen Eismeer und griechischem Strand. Es ist ein Spiel: schön, liebevoll, gut und bunt – auch wenn eine der Figuren aus dem Reigen ausgeschlossen wird, und die Zeichen auf Ästhetizismus stehen. Doch auch hier lebt die Botschaft als Wegweiser: Aus Feind mach Freund, die Ausgegrenzte wird als Gast empfangen. einen kleinen Makel jedoch verunstaltet auch diese Welt: Die Geschlechter im Orphtheater sind einsam, so einsam, daß sie sich selbst küssen müssen, ganz laut. Der Orgasmus schließlich ist ein autarker Selbstläufer, höchstens aber erotische Akrobatik. Schön und traurig zugleich. Petra Brändle
Orphtheater-Werkschau: Heute und morgen, 21 Uhr: „Njuchin“, Sa./So., 21 Uhr: „Hanjo“. Tacheles, Oranienburger Straße 54–56, Mitte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen