: Die Polizei für den Welthandel
122 Wirtschaftsminister unterzeichnen in Marrakesch die Schlußakte der Gatt- Verhandlungen und gründen eine Welthandelsorganisation ■ Von Donata Riedel
Berlin (taz) – Marrakesch lebt vom Handel. Die Souks der alten marokkanischen Königsstadt sind seit Jahrhunderten Ziel der mit Silberschmuck beladenen Berber- Karawanen. Alle Gewürze der Welt duften durcheinander. Zwischen Angebot und Nachfrage wird um den Preis des Teppichs, des Kaftans oder eines Ziegenhirns gefeilscht.
Heute erwartet Marrakesch eine besonders lange Karawane. 122 Wirtschaftsminister werden mit ihrem jeweiligen Troß die Luxushotels außerhalb der bunten Altstadt in Beschlag nehmen. Das Feilschen um die einzelnen Punkte des neuen Gatt-Vertrages, des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, haben sie vor Weihnachten hinter sich gebracht. Jetzt fehlen nur noch ihre Unterschriften unter der Schlußakte der Gatt- Verhandlungen, einem 450-Seiten-Wälzer, der in sieben Jahren zäher Verhandlungen zustande kam. Weil jeder der 122 das Recht auf eine Rede hat, wird die Zeremonie bis Freitag abend dauern.
Weltkonjunkturprogramm
Nach Berechnungen von OECD und Weltbank ist das Buch von Marrakesch, dessen 28 Gesetze ab 1. Januar 1995 nach der Ratifizierung in allen Unterzeichnerstaaten gelten sollen, ein riesiges Welt- Konjunkturprogramm: Dank Gatt, so die Rechenkünstler in ihrem optimistischen Szenario, soll der Welthandel um zwölf Prozent oder 745 Milliarden Dollar wachsen und die Menschheit um 230 Milliarden Dollar pro Jahr reicher machen.
Auf die eine oder andere Art jedenfalls wird der Händler in Marrakesch das Gatt ebenso spüren wie die Boutiquenbesitzerin in München, die Textilarbeiterin in Singapur wie der bretonische Bauer und der Vorstandsvorsitzende von General Motors in Detroit. Denn das Buch von Marrakesch enthält die Spielregeln für jeden Handel, bei dem eine Staatengrenze überschritten wird. Also etwa die Gewürze in den Souks von Marrakesch, die Bluse aus Singapur in der Münchner Boutique, bretonisches Getreide in Afrika und Japanautos, die als Konkurrenzprodukte dem GM-Vorstand Kopfschmerzen bereiten.
Der Welthandel ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stetig gewachsen. Für 3,58 Billionen US-Dollar wurden 1992 Waren und Dienstleistungen über Grenzen hinweg gehandelt – häufig all jenen staatlichen Eingriffen zum Trotz, mit denen Importeure gegenüber den einheimischen Anbietern diskriminiert werden.
Besonders kraß der Agrarmarkt: Die EU zahlt Milliardensummen an Exportsubventionen, um den europäischen Rindfleischberg billiger als jedes andere Land auf dem Weltmarkt absetzen zu können. Argentinien konnte darum nicht mehr Rindfleisch in Brasilien verkaufen, weil das EU- Fleisch für magere acht Mark pro Kilo in brasilianischen Läden verramscht wurde. Nach dem Blair- House-Abkommen, das jetzt Teil des Gatt ist, müssen in den nächsten sechs Jahren derart subventionierte Exporte um 21 Prozent, außerdem die Einfuhrzölle um 36 Prozent gesenkt werden. Und in Zukunft soll die EU nicht mehr die Produkte der Landwirte, sondern nur noch ihre Einkommen subventionieren dürfen.
Auch für industriell gefertigte Ware türmen sich überall Importhürden auf. Weltweit werden nun für Industriegüter sämtliche Handelsschranken – wie Einfuhrquoten, technische Standards und Lizenzsysteme – vereinheitlicht, ihr Wert in Zölle umgerechnet, und diese Zölle wiederum im Schnitt um mehr als ein Drittel gesenkt.
Güter werden billiger
Diese Teile des Gatt werden, besonders in den Industriestaaten, alle Verbraucher spüren: Einfache Güter des täglichen Bedarfs werden billiger. In Westeuropa wird vor allem Kleidung preisgünstiger, für die in den nächsten zehn Jahren das Welttextilabkommen ausläuft, das für T-Shirts und Hosen aus Hongkong und anderen asiatischen Ländern bisher Importquoten festsetzt. Deutlich billiger werden auch Hifi-Anlagen, Video- und TV-Geräte aus Fernost.
Weltweite Spielregeln sieht das Gatt erstmals auch für die sich internationalisierenden Dienstleistungsmärkte (Banken Versicherungen, Transport, Tourismus) vor, außerdem Standards für die Rechte an geistigem Eigentum (Patente, Urheberrechte).
Das Gatt-Sekretariat in Genf, bislang eine eher unauffällige Behörde, wird künftig in Handelskonflikten eine wichtige Rolle als Schiedsrichter spielen. Anti-Dumping-Aktionen muß künftig jede Regierung vor dem Gatt begründen. Schwieriger wird es dann auch für die US-Regierung, ihre „Super- 301“-Klausel, die Strafzölle für Länder mit angeblich unfairen Handelspraktiken vorsieht, anzuwenden.
Zusätzlich zur Unterschrift im Gatt-Buch unterzeichnen die 122 Wirtschaftsminister das Gründungsdokument für eine Welthandelsorganisation (WTO = World Trade Organization). Mit fünfzigjähriger Verspätung soll die WTO im Handelsbereich die beiden alten Institutionen der Weltwirtschaft, den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, ergänzen und auf allen „handelsrelevanten“ Feldern als Weltpolizist auftreten.
Was aber ist handelsrelevant? Im Vorfeld der feierlichen Marrakesch-Zeremonie hatte Gatt-Generaldirektor Peter Sutherland große Mühe, den Streit zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern als „künftige Aufgabe“ an das Komitee zu delegieren, das der WTO eine Form geben soll. Die Industrieländer wollen Umwelt- und Sozialstandards als handelsrelevant eingestuft sehen, außerdem die Menschenrechte notfalls durch Handelssanktionen schützen.
Zusätzlich soll sich die WTO- Arbeitsgruppe mit dem Schutz vor Wechselkursschwankungen befassen, die den internationalen Wettbewerb stärker verzerren können als die heutigen Handelshemmnisse. Und braucht der Welthandel letztlich nicht auch den Schutz vor internationalen Kartellen, welche die Freiheit des Handels vom Staat durch private Absprachen einschränken können?
Es sind ausgerechnet die Entwicklungsländer, die sich vehement gegen allzu viele Regeln an den Randbereichen des Handels wehren und von verkappter „Weltplanwirtschaft“ reden. 1986, als die achte Runde der Gatt-Verhandlungen in Uruguay auf Betreiben der US-Regierung begonnen wurde, hegten die Entwicklungsländer große Befürchtungen wegen der Liberalisierung des Welthandels. Den Industriestaaten, so argumentierten vor allem Brasiliens und Indiens Verhandlungsführer, käme es doch nur darauf an, ihre Waren auf die Märkte der Dritten Welt werfen zu können und dort die bislang von Zöllen geschützte Industrie plattzumachen.
Ende der 80er Jahre aber stellten viele Entwicklungsländer ihre Wirtschaft auf Exportorientierung um. Dabei machten sie die Erfahrung, daß es nun ihrerseits die Industriestaaten waren, die ihre Märkte gegenüber Importen abschotteten.
Die britische Organisation Oxfam, die sich für einen fairen Handel mit der Dritten Welt einsetzt, errechnete, daß den armen Ländern dadurch jährlich 100 Milliarden US-Dollar an Handelseinnahmen verlorengehen. Gerade Indien und Brasilien, die heute als potentielle Gatt-Profiteure gelten, betrachten die Schutzklauseln als Vorwand der Reichen, trotz des Gatt-Vertrages Dritte-Welt-Ware von ihren Märkten fernhalten zu können.
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