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Abstimmung paradox in Moskau

Haushaltsbudget in erster Lesung verabschiedet / Tschernomyrdins Vorschlag fast unverändert / Verteidigungsministerium meutert  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Das von der russischen Regierung vorgelegte Haushaltsbudget für das laufende Jahr ist letzte Woche in erster Lesung überraschend reibungslos verabschiedet worden. Nur 73 der 233 Abgeordneten hoben ihre Hände dagegen.

Die von den Parlamentariern durchgesetzten Änderungen blieben minimal. Das größte Zugeständnis errangen die Agrarier, die 8 Billionen Rubel für die Landwirtschaft plus 1,5 Billionen Sozialzuschüsse herausdiskutierten. Das Haushaltsdefizit soll nunmehr 70 Billionen Rubel (etwa 67 Milliarden D-Mark) betragen – bei Einnahmen von 120 Billionen Rubel. Es liegt damit unter der Grenze von 10 Prozent des voraussichtlichen Bruttosozialproduktes und lediglich um 1,2 Billionen über Ministerpräsident Tschernomyrdins zuletzt genannter Idealvorstellung.

Der erhält damit eine Chance, die Inflation im Lande bis Ende des Jahres stark abzubremsen – das hatte die russische Regierung dem Internationalen Währungsfonds im Frühjahr versprechen müssen. Nur für die Zusage, die Geldentwertung in diesem Jahr auf 7 bis 9 Prozent zu begrenzen, hatte der IWF eine weitere Kreditrate von 1,5 Milliarden Dollar herausgerückt. Die Abstimmung hat gezeigt, daß die Regierung vorerst eine lähmende Konfrontation mit der Legislative vermeiden konnte, wie sie im vorigen Oktober zur Auflösung des Obersten Sowjets geführt hatte.

Das Ergebnis spiegelt allerdings bei näherem Hinsehen eine verkehrte parlamentarische Welt wider. Die meisten der traditionell reformfreundlichen Gruppen stimmten nämlich mit Nein. Dagegen billigten gerade solche Parteien den vorliegenden Entwurf, die die vorgesehenen starken Kürzungen in fast allen Bereichen als unheilvoll für das Land betrachten. Deputierte der kommunistischen, nationalistischen und zentristischen Fraktionen behaupteten, sie hätten nur zugestimmt, um die Regierung dazu zu zwingen, die Verantwortung für den ökonomischen Niedergang Rußlands auf sich zu nehmen. „Ein Nein unsererseits hätte der Regierung eine Handhabe geliefert, um sich selbst zu rechtfertigen und die Schuld für die wirtschaftliche Not vieler Menschen auf uns abzuwälzen“, sagte zum Beispiel Adrian Pusanowski, Mitglied des Duma-Wirtschaftskommitees und der Gruppe „Neue Regionale Politik“.

Was hinter diesem dialektischen Winkelzug wirklich steht, wird sich bei der für Anfang Juni geplanten zweiten Lesung des Gesetzes zeigen. Schon jetzt kann man davon ausgehen, daß Tschernomyrdins bewährtes Verhandlungsgeschick hier neue Erfolge gezeitigt hat. Besonders offensichtlich war dies im Falle von Wladimir Wolfowitsch Schirinowski. Dessen ultranationalistische „Liberaldemokratische Partei“ rang sich erst in allerletzter Minute zu einem Ja-Votum durch, nachdem der Ministerpräsident bereit war, sich mit ihrem Führer zu treffen. Schirinowski nutzte diese Gelegenheit, um Ministerposten für seine Partei zu fordern.

Die Fraktion „Rußlands Wahl“ des Ex-Ministerpräsidenten Jegor Gaidar stimmte hingegen, wie angekündigt, gegen den Budget-Entwurf, ebenso die Gruppe „Jabloko“ des Wirtschaftswissenschaftlers Grigori Jawlinski. Beide halten die Höhe der geschätzten Staatseinnahmen für übertrieben optimistisch und somit die ganze Grundlage der Planung für unrealistisch. Gaidar kündigte auf einer Pressekonferenz an, er werde bei der nächsten Lesung des Gesetzes Korrekturen einbringen, die die Aufstockung der Etats von Armee und Bildungswesen erlaubten. Das Geld dafür möchte er durch Kürzungen der Staatszuschüsse für „uneffektive und parasitäre Produktionsbetriebe“ und die immer noch mit Finanzmitteln wohlbedachte Staatsbürokratie lockermachen.

Verteidigungsminister Gratschow sagte nach seiner Rückkehr aus Deutschland, das Abstimmungsergebnis sei ein „Schock“: Die Armee könne angesichts dessen nur noch sieben bis acht Monate unterhalten werden, und auch dies nur, wenn das Verteidigungsministerium sich in seinen Ausgaben auf Soldzahlungen und Lebensmittelkäufe beschränke. Schon früher hatte das Verteidigungsministerium gewarnt, die Armee könne bei solcher Finanzierung „außer Kontrolle geraten“.

Das Kabinett und Präsident Jelzin persönlich haben sich in den letzten Tagen für die Erhöhung des Verteidigungsetats ausgesprochen, wobei sie sich allerdings nicht dazu äußerten, wieweit sich diese ihrer Ansicht nach auf den Gesamtrahmen des Haushaltes auswirken dürfte. Das Verteidigungskommitee der Duma schlug eine Aufstockung von gegenwärtig vorgesehenen 37 auf 55 Billionen Rubel vor und somit eine Erhöhung des Haushaltsdefizits auf 86,6 Billionen Rubel. Vor allem die Wünsche der Militärs versprechen das Parlament bei der nächsten Lesung des Gesetzes doch wieder in ein verbales Schlachtfeld zu verwandeln.

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