Ein Staat ohne definiertes Staatsgebiet

Unterzeichnung der neuen bosnischen Verfassung zunächst verschoben / Staatsgebiet weiterhin unklar / Genfer Diplomaten: Neuer Krieg zwischen Kroatien und Serbien möglich  ■ Aus Genf Andreas Zumach

Mit der offiziellen Annahme einer Verfassung wollten die kroatischen und muslimischen Abgeordneten des Parlamentes von Bosnien-Herzegowina gestern in Sarajevo ihre „Föderation der Kroaten und Bosniaken“ ausrufen. „Bosniaken“ ist künftig die offizielle Bezeichnung der Muslime. Die ursprünglich für den Nachmittag geplante Unterzeichnung mußte allerdings um mehrere Stunden verschoben werden, da es Schwierigkeiten bei der Anreise der Abgeordneten aus den zentralbosnischen Kriegsgebieten gegeben hatte.

Immerhin wurde der Kroate Krešimir Zubak wie geplant zum ersten Präsidenten, der bisherige Premierminister Bosnien-Herzegowinas, der Bosniake Haris Silajdžić, zum Regierungschef der Föderation gewählt. Entsprechend der Verfassung, die seit Anfang Januar unter aktiver Vermittlung der USA erarbeitet wurde, bestimmten die Abgeordneten mit Bosniens bisherigem Vizepräsidenten Ejup Ganić einen Bosniaken zum Stellvertreter des Föderationspräsidenten Zubak sowie einen Kroaten zum Vize-Regierungschef. Die Ämter wurden damit allerdings nur bis zum Jahresende besetzt, danach sollen die Posten alle 12 Monate zwischen den beiden Volksgruppen rotieren.

Dem Gründungsakt lag eine Karte zugrunde, laut der die Föderation in acht Kantone untergliedert werden und 58 Prozent des bisherigen bosnischen Territoriums umfassen soll. Es handelt sich dabei um alle Gebiete, in denen laut der Volkszählung von 1991 Muslime und/oder Kroaten eine deutliche Bevölkerungsmehrheit bildeten. Die derzeit von serbischen Truppen eingeschlossenen muslimischen Enklavenstädte Goražde, Zepa, Srebrenica und deren Umgebung gehören demnach als integraler Bestandteil zum Staatsgebiet der Föderation.

Die Karte war unter aktiver Beteiligung von US-Vermittler Charles Redman und amerikanischen Experten Anfang Mai in der Wiener US-Botschaft erarbeitet worden. Inzwischen war die Clinton- Administration wieder von der Karte abgerückt und auf die Linie Rußlands und der EU eingeschwenkt. Danach sollen die bosnischen Serben, die derzeit 70 Prozent der ex-jugoslawischen Republik kontrollieren, 49 Prozent behalten. Die neue Föderation würde lediglich 51 Prozent umfassen.

Bei diesem Modell würden die drei ostbosnischen Enklaven allerhöchstens durch einen schmalen Korridor mit dem Hauptgebiet der Föderation um Sarajevo und Tuzla verbunden. Bei Verhandlungen im französischen Talloires bei Genf hatten führende Vertreter der Bosniaken und Kroaten letzte Woche nicht ausgeschlossen, daß sie sich auch mit einer Größenordnung zwischen 51 und 58 Prozent Territorium für die Föderation zufrieden geben könnten. Serbenführer Radovan Karadžić, der bislang die Überlassung selbst nur von 51 Prozent des bosnischen Territoriums an die Föderation rundweg abgelehnt hatte, stellte inzwischen hierfür eine aus bosniakisch-kroatischer Sicht völlig unannehmbare Bedingung: Sarajevo und Tuzla müßten dem künftigen serbischen Gebiet zugeschlagen werden.

Angesichts dieser unvereinbaren Positionen sowie der anhaltend schweren Kämpfe vor allem in Zentralbosnien äußerten sich mit den Bosnien-Verhandlungen der letzten zwei Jahre befaßte Genfer Diplomaten gestern gegenüber dieser Zeitung äußerst skeptisch über die Aussichten der für Ende der Woche geplanten Verhandlungen – falls diese überhaupt zustande kommen. Auch seien die Bemühungen um eine politische Lösung des Krajina-Konflikts in Kroatien „immer mehr in die Sackgasse geraten“, erklärte eine EU- Diplomat. Für den Sommer bestehe „die Gefahr eines erneuten großen Krieges zwischen Kroatien und Serbien — möglicherweise unter Beteiligung der bosniakisch- kroatischen Föderationsarmee auf seiten der Streitkräfte Kroatiens“.

Tuzla beschossen

Nach Angaben eines Offiziers der UN-Schutztruppen (Unprofor) ist der UN-kontrollierte Flughafen der nordbosnischen Stadt gestern nachmittag wenige Minuten vor der Ankunft einer russischen Iljuschin 76 unter Beschuß genommen worden. Der Flughafen wird zweimal täglich von russischen Transportflugzeugen angeflogen. Zunächst war unklar, ob es bei dem Angriff Verletzte gab. Nach Angaben von AFP wurde der Landeplatz vorerst geschlossen. Alle anwesenden Blauhelme hätten sich in die Gebäude zurückgezogen. Die bosnischen Serben hatten am Montag vormittag angekündigt, daß sie an diesem Tag nicht für die Sicherheit auf dem Gelände garantieren könnten.