: Der hat Phantasie
■ betr.: „Formen von Desorientie rung und Verfall“, (Werner Schif fauer, Professor für europäische Ethnologie, zum Anschlag), taz vom 11.5.94
Ihr berichtet über einen blutigen Familienstreit, dessen Verlauf und Hintergründe alles andere als geklärt sind. Da unterscheidet Ihr Euch wenig in der Darstellung in anderen Zeitungen. Der kleine Unterschied: Ihr liefert dem bildungshungrigen fortschrittlichen Leser das aufklärende Hintergrundinterview.
Machen Türken das immer so? Haben sie auch alles richtig gemacht? Was den Hergang der Tat angeht, tappt Herr Schiffauer genauso im dunkeln wie wir Leser. Der Onkel als Opfer wäre logischer gewesen, er hätte fliehen müssen. „Das wäre zumindest das übliche Verhalten gewesen.“ Weil Mord und Totschlag sowie anschließende Flucht bei Türken halt so verlaufen, oder? Eigentlich wäre ja der ältere Bruder zuständig gewesen. Das ist bei Türken so, wenn's um die Ehre geht. Das weiß auch ich. Die Fragerin weiß auch einiges über Türken: Daß die Tochter mit 16 heiratete, könnte traditionelle Gründe haben, mutmaßt sie. Herr Schiffauer weiß sogar, daß „es auch andere Gründe haben“ könnte. Er hat es studiert, und so kann er sich auch für die Tatsache, daß sie erst nach der Hochzeit auspackte, „viele mögliche Szenarien“ denken. Der hat Phantasie.
Aber zum Glück kann er unsere Beunruhigung über den Fall zum Schweigen bringen: „Bei den in Deutschland lebenden Immigranten gibt es keinen Automatismus, aufgrund der verletzten Ehre zu töten.“ Er ist ihnen nämlich auf dem Weg von Anatolien nach Kreuzberg abhanden gekommen.
Ich bin nur zum Teil beruhigt. Denn Sorge bereitet mir nun eine taz, die derart rassistische Plattitüden abdruckt. Reinhard Aehnelt
In einem hat er recht, dieser Professor für europäische Ethnologie Schiffauer: „Als Außenstehender dazu etwas zu sagen, ist sehr riskant.“ Was ihn aber keineswegs daran hindert, sich auf übelste Weise über die junge Türkin, die mit ihrer Familie Opfer des Handgranatenanschlages wurde, auszulassen, die er offenbar überhaupt nicht kennt, über die er sich aber als Ethnologe für berechtigt hält, abschließende Urteile zu fällen, nur aus der Tatsache heraus, daß sie ja Türkin ist. Er weiß, daß die junge Frau vielleicht „mit einem Mann durchbrennt“, deshalb schnell verheiratet werden mußte, daß sie ihren Mann „in der Hochzeitsnacht mit dem Verlust ihrer Jungfräulichkeit konfrontieren“ mußte usw.
Auch ohne diese Familie je gesehen zu haben, schwadroniert er dummdreist über unter Türken „übliches Verhalten“ und ihre „normalen Muster“ im Zusammenleben. „Die Türken“ sind eben so, hier können alle Vorurteile und pauschalen Vorstellungen bestätigt werden.
Die Fragen der P. Plarre zeugen ebenfalls von Sensationsgier und Ahnungslosigkeit, ganz davon abgesehen, daß Opfer von Gewalt doch wohl auch vor solchem Journalismus zu schützen sind. Die Bild-Zeitung hätte das wahrscheinlich alles nicht ganz so plump, dümmlich und rassistisch berichtet. Holde Pinnow
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