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"Sie kämpfen niemals für andere"

■ Die jemenitische Einheit ist gescheitert, zwischen beiden landesteilen herrscht Krieg. Die Vereinigung konnte Unterschiede zwischen der sozailistisch geprägten Gesellschaft im Süden und den im Norden...

HintergrundSamstag, 11. Juni 1994

Die jemenitische Einheit ist gescheitert, zwischen beiden Landesteilen herrscht Krieg. Die Vereinigung konnte Unterschiede zwischen der sozialistisch geprägten Gesellschaft im Süden und den im Norden mächtigen Stämmen nicht aufheben.

„Sie kämpfen niemals für andere“

Salah trägt das für Jemeniten charakteristische bodenlange weiße Gewand. Um die schmale Taille hat er einen buntbestickten Gürtel gewickelt, in dem ein Dschambeya steckt, jener gebogene Dolch, der im Jemen für jeden Mann ab der Pubertät ein Muß ist. „Ich gehöre zum Qabilat Alhuscheich“ – dem Stamm der Alhuscheich – erklärt er seine familiäre Herkunft. Sein Zuhause sei ein Dorf, 35 Kilometer von der Hauptstadt entfernt.

In Sanaa trifft man kaum einen Jemeniten, der nicht stolz seinen „Ursprung“ betont. Egal ob Verkäufer im Suk oder Universitätsprofessor, alle verweisen auf ihre Stammeszugehörigkeit. Die Hauptstadt ist für sie nur Wohn- und Arbeitsort. Zu Familienfesten fahren sie in „ihre“ Dörfer, auch wenn die Familie schon in zweiter Generation in Sanaa lebt. Die meisten jemenitischen Stämme siedeln auch heute noch in den Gebieten, in denen ihre Vorfahren gelebt haben. Alle Versuche der jeweiligen Machthaber, sich ihre Loyalität dauerhaft zu sichern, scheiterten.

„Alles auf unserer Erde gehört dem einen Gott“, sagt Humeir. Der Dreißigjährige ist Sohn eines Stammesscheichs und wird nach dessen Tod die Rolle des Oberhauptes übernehmen. „Befehlshaber sind Geschöpfe Gottes und damit nur Vermittler“, erläutert er. Letztendlich komme es darauf an, daß „der Mensch Gott gegenüber loyal ist und nicht einem Menschen“. Innerhalb der Stämme herrscht eine eigene soziale Ordnung. An der Spitze steht der Scheich. Größere Stämme bilden Unterabteilungen und Sippen, die von eigenen Scheichs geführt werden. Ihr Gesamtoberhaupt trägt den Titel Scheich Mascheyech oder An-Naqib. Trotz des zentralistischen Aufbaus genießen die Unterabteilungen der Stämme eine verblüffende politische und wirtschaftliche Autonomie.

Statt des traditionellen Dolchs tragen viele Stammesangehörige auf dem Land inzwischen eine Kalaschnikow. Es wird erzählt, der Vater kaufe seinem Sohn gleich nach dessen Geburt eine solche Waffe. Das Gewehr hänge dann an der Wand, bis der Knabe als alt genung angesehen werde, damit umzugehen. Das kann schon im Alter von zehn Jahren sein. Über leichte Waffen hinaus verfügen einige der Stämme über beträchtliche Arsenale an Artillerie, Flugabwehrkanonen und einige sogar über Panzer.

Während des Bürgerkriegs in den sechziger Jahren unterstützte Saudi-Arabien die jemenitischen Royalisten und das nasseristische Ägypten die Republikaner. Beide Staaten versorgten die Stämme mit großen Mengen an Waffen, um sie für sich zu gewinnen. Vor der Vereinigung im Mai 1990 versuchten die rivalisierenden Regierungen im Norden und im Süden ebenfalls die Stämme für sich einzunehmen, indem sie ihnen Waffen schenkten.

Im sozialistischen Süden wurde die Macht der Stammesführer durch Verstaatlichungen gebrochen. Das führte jedoch nicht zur Auflösung der Stammesstrukturen. Bei der Besetzung von Posten im Politbüro, in der Armee oder der Verwaltung spielten Stammeszugehörigkeiten auch unter den Sozialisten eine wichtige Rolle.

Im Norden des Landes wurden die Stämme kaum in ihrer Macht eingeschränkt. Einige waren bemüht, Schlüsselfunktionen in der Armee oder Regierung mit ihren Leuten zu besetzen. Am erfolgreichsten gelang das den Stämmen der Hasched-Gruppe. Die von Scheich Abdullah Al Ahmar geführte Gruppe ist derzeit die vielleicht mächtigste Institution im Land. Angehörige der Hasched bilden die Mehrheit der Offiziere der nordjemenitischen Armee. Hasched-Mitglieder besetzen wichtige Posten in Geheimdienst und Staatsverwaltung. Präsident Ali Abdallah Salih ist selbstverständlich auch ein Hasched. Scheich Abdullah Al Ahmar ist zugleich Oberhaupt der „Jemenitischen Versammlung für Reform“. Die konservative islamische Partei kam bei den Parlamentswahlen im April 1993 auf Platz zwei, hinter Salihs „Volkskongreß“. Al Ahmar wurde Präsident des ersten gesamtjemenitischen Parlaments. Als am 5. Mai dieses Jahres der Krieg zwischen den Truppen des Nordens und des Südens begann, stellte er sich demonstrativ an die Seite Salihs. Jedoch haben sich bis heute seine Stammeskrieger nicht an den Kämpfen beteiligt. „Scheich Al Ahmar könnte mehr als eineinhalb Millionen Krieger mobilisieren, alle mit modernsten Waffen ausgerüstet“, meint ein arabischer Diplomat in Sanaa.

Die Widersacher der Hasched sind die Bakil. Obwohl zahlenmäßig überlegen, haben Angehörige der Bakil kaum wichtige Regierungsposten inne. Nach der Vereinigung versuchte die bis dato im Süden herrschende „Sozialistische Partei“ Bakil für sich zu gewinnen. Die in dem bevölkerungsarmen Landesteil starke Partei (14 Millionen JemenitInnen leben im Norden, 2,5 Millionen im Süden) versuchte so ein Standbein im Norden zu bekommen. Bakil-Führer wurden von den Sozialisten mit Geld und Waffen ausstaffiert. An Kundgebungen der Partei beteiligten sich Zehntausende Angehörige der Bakil. Doch seit Kriegsbeginn verhalten sich auch die Bakil ruhig. Die von JemenitInnen befürchtete Eskalation zum Stammeskrieg hat bisher nicht stattgefunden.

Die Sozialisten hätten durch ihr erfolgloses Werben unter den Bakil bewiesen, „daß sie mehr von Marx und Lenin verstehen als von der Mentalität ihrer Landsleute“, meint der Soziologe Abdul Malik von der Universität in Sanaa. „Sie haben nicht gewußt, daß die Stämme niemals für andere kämpfen, sondern nur für sich.“ Ein jemenitischer Journalist behauptet, die einflußreichsten Stammesführer verfügten über „eigene diplomatische Verbindungen“ in Nachbarstaaten. Noch hielten sich die Stammesoberen aus den Kämpfen heraus, jedoch beobachteten sie das Geschehen genau und behielten sich vor, jederzeit zu „entscheiden, was zu tun ist“. Khalil Abied, Sanaa

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