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Baggio und die wandelnde Neonröhre

Kurz vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft nimmt auch die sportbegeisterte Bevölkerung in den USA langsam etwas Notiz von dem exotischen Spiel mit dem seltsamen Ball  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Noch knapp eine Woche bis zum Beginn der Fußballweltmeisterschaft in den USA. Ein notorisch ungekämmter Herr namens Bora Milutinovic hat kürzlich die Namen von 22 Männern vorgelesen, die demnächst beweisen sollen, daß Amerikaner beim Betreiben eines Ballsports durchaus die Füße einsetzen können. Diese Männer tragen Namen wie Friedel, Wegerle, Sommer, Lalas, Ramos oder Perez. Sie sind in Südafrika, in den Niederlanden, in Uruguay oder El Salvador geboren; manche haben als illegale Einwanderer Teller gewaschen, andere sind per Heirat etwas bequemer zur US-Staatsbürgerschaft gekommen und damit in das US- Nationaltrikot geschlüpft. Und dann spielt da noch einer mit einem richtig amerikanisch klingenden Namen: Thomas Dooley.

Der kam in Bechhofen in Rheinland-Pfalz zur Welt, spielte einige erfolgreiche Jahre beim 1. FC Kaiserslautern in der Bundesliga. Dann kam irgend jemand im US-Fußballverband darauf, daß Dooleys Vater amerikanischer GI war und dem Sohn folglich das Recht auf einen amerikanischen Paß zustand. Jetzt ist der 33jährige Dreh-und Angelpunkt des US- Teams, der nicht nur die Verteidigung zusammenhalten, sondern auch Angriffe initiieren soll. Dieser improvisierte Haufen aus Immigranten und verlorenen Söhnen ist die perfekte Minikopie der USA: Ein Einwandererteam spielt für das Einwanderungsland.

Noch knapp eine Woche bis zur Fußballweltmeisterschaft – und natürlich interessiert sich die große Mehrheit der Amerikaner nicht für Nationaltrainer Milutinovic' Mannschaftsaufstellung, sondern für die Finalspiele der NBA-Basketballiga und das Stanley-Cup-Finale im Eishockey zwischen den New York Rangers und den Vancouver Canucks. Die Soccer-WM rangiert für viele auf der sportlichen Bedeutungsskala derzeit kurz vor den „Gay Games“, den Olympischen Spielen der Schwulen und Lesben, die am 18. Juni in New York eröffnet werden. Der Fernsehsender ABC und der Sportkanal ESPN, die die 54 WM-Spiele in den USA übertragen werden, rechnen mit Einschaltquoten um die 4.0 bis 4.5, was rund vier Millionen Fernsehzuschauern entspricht. So viele schalten sich mittlerweile bei Golfturnieren ein. Beim „Super Bowl“, dem jährlichen Höhepunkt der amerikanischen Footballsaison, sitzen bis zu 50 Millionen Amerikaner vor dem Fernseher.

Der entscheidende Punkt ist: Wenn die Fußball-WM in den USA selbst kein TV-Erfolg wird, dann war die Entscheidung der FIFA, eben jene Veranstaltung in den Vereinigten Staaten stattfinden zu lassen, unter US-amerikanischen Gesichtspunkten ein Reinfall – zumindest, was die Pläne für eine nationale Profiliga betrifft. Dann können die Sportkommentatoren der New York Times, USA Today oder Sports Illustrated wieder hemmungslos Häme über diesen „Proletensport“ ausschütten, der in ihren Augen schon allein deshalb „unamerikanisch“ ist, weil die Bildung eines Proletariats immer schon als „unamerikanisch“ galt.

Von dem kalifornischen Politologen Andrei Markovits stammt die These, daß Fußball ebenso wie Sozialismus im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ohne Chance sind. Markovits' These lautet, zusammengefaßt, etwa so: Die USA waren und sind ein zutiefst bürgerliches Land, in dem die Freiheit des Individuums und des Marktes unantastbare Glaubensgrundsätze darstellen. Deshalb ist es nie gelungen, eine in den Massen verankerte Arbeiterbewegung aufzubauen; deshalb ist die Neigung, in mehr oder weniger gleichberechtigten Kollektiven zu agieren, eher gering. Diese Werte und Strukturen finden ihre Entsprechung in den Massen- und Mediensportarten: Vor allem im Football mit seiner strikten Hierarchie, seiner Brutalität und seinem Machismo. Hinzu kommt die Obsession der Amerikaner mit Meßbarkeit und Statistiken: Die Leistung eines jeden Football-, Baseball- oder Basketballprofis wird nach dem Spiel in ein Skelett von Zahlen zerlegt – Grundlage für die Bewertung und Honorierung der Leistung. „Ganz analog“, sagt Markovits, „zum Entlohnungssystem bei taylorisierten Formen industrieller Produktion.“

Nun wären Protagonisten der Bundesliga wie zum Beispiel Uli Hoeneß höchst indigniert, würde man ihren Sport in einem Atemzug mit Sozialismus nennen. Doch Markovits' These ist durchaus einleuchtend, um zu erklären, warum der Fußball in der Vergangenheit in den USA keinen Anklang fand. Ob sich daraus eine gleichermaßen düstere Zukunftsprognose ableiten läßt, ist längst nicht mehr so klar.

Auch wenn die WM keine Einschaltrekorde produzieren wird, so konnten die US-Medien doch nicht umhin, die Veranstaltung schon im Vorfeld zur Kenntnis zu nehmen. Sports Illustrated, das größte Sportmagazin des Landes, in dem einst alle „Fußballhasser“ aufgerufen wurden, sich zu vereinigen, ringt sich mittlerweile in jeder Ausgabe zwei bis vier Seiten über Soccer ab. Die New York Times, deren Kommentator im letzten Jahr noch über die Spannungslosigkeit des Spiels und die unmodischen Hosen der Spieler lästerte, hat ihren Lesern inzwischen alles Wissenwerte über Milutinovic, Dooley und Co. mitgeteilt; und das Nachrichtenmagazin Newsweek ist mit einem Fußballsonderheft auf den Markt gekommen. Da wird für die Anfänger erklärt, wie das Spielfeld aussieht; was der striker (Stürmer) oder sweeper (Libero) zu tun haben; daß man den Ball wirklich nicht mit der Hand spielen darf; daß Fußball physisch anspruchsvoller als Basketball oder Football ist, obwohl Fußballspieler in der Regel kleiner sind als Football- und Basketballprofis – ein Umstand, der manchen Amerikaner in ungemeines Erstaunen versetzen kann.

Die Fortgeschrittenen wissen inzwischen, was Maradona unter „der Hand Gottes“ versteht; daß Baggio kein italienischer Sportwagen ist, sondern der „Europäische Fußballer des Jahres“ 1993 und praktizierender Buddhist; und daß es sich bei der wandelnden Neonröhre im mexikanischen Team um Torhüter Jorge Campos handelt, der nicht nur eine Vorliebe für weite Ausflüge ins Feld, sondern auch für fluoreszierende Trikots hat.

Und dann sind da noch die ganz Aufrechten, die den wahren Fußball immer schon geliebt haben. Das amerikanische Frauennationalteam zum Beispiel, das 1991 Weltmeister geworden ist, ohne daß davon irgend jemand in den USA Notiz genommen hätte; die Handvoll Sportjournalisten, die für ihre Vorliebe über Jahre hinweg als Sissies oder commie pansies verspottet wurden; die Fans, die in den siebziger Jahren eine Zeit lang an die Revolution glaubten, als ein gewisser Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé, und ein Beckenbauer alias „Kaiser Franz“ für Cosmos New York kickten. Sie alle dürfen sich ab dem 17. Juni wenigstens für vier Wochen ganz „hip“ und „cool“ fühlen.

Ihre mittelfristige Zukunft hängt nicht zuletzt vom Abschneiden des US-Nationalteams ab, das mit der Schweiz, Rumänien und Kolumbien in der Gruppe A antritt. Die zweite Runde zu erreichen ist das Plansoll für die Mannschaft. Die daraus resultierende nationale Euphorie für den Gastgeber und Underdog, so das Kalkül der amerikanischen Fußball- Offiziellen, ist als Initialzündung für eine noch zu bildende Profiliga im nächsten Jahr gedacht. Scheiden die USA wie bei der letzten WM in der ersten Runde aus, dann sieht es schlecht aus für die Einschaltquoten – und für die Soccer- Gemeinde.

Doch selbst in diesem Fall stehen die Chancen für das nächste Jahrhundert so schlecht nicht: Erstens erfreut sich Fußball trotz seiner „unamerikanischen“ Reputation wachsender Beliebtheit. Während Basketball nach wie vor die Funktion erfüllt, die in anderen Ländern der Fußball einnimmt – nämlich irgendwann mit einem Profivertrag aus dem Armenviertel der Stadt herauszukommen – wird Soccer in den USA zunehmend zum Spiel der vorwiegend weißen Vorstadtkinder. Mittlerweile kicken 16 Millionen Amerikaner. Die meisten sind unter achtzehn; rund die Hälfte sind Frauen und Mädchen. Es gibt längst Universitätsmannschaften, Fußballstipendien für sportlich begabte Studenten, eine „American Youth Soccer Association“ mit zwei Millionen Mitgliedern, die wettbewerbsmäßig spielen, sowie eine „American Youth Soccer Organisation“, die eine halbe Million Fußballer zwischen 5 und 18 Jahren in über 30.000 Ligen organisiert hat. Was Eltern an dieser neuen Vorliebe ihrer Sprößlinge zu schätzen wissen, sind die im Vergleich zum amerikanischen Football weitaus billigere Ausrüstung, die geringere Verletzungsgefahr – und das Potential zum Austoben, welches das statische Baseball nicht bietet.

Der Boom in Suburbia erhält Rückenwind aus einer anderen Richtung. Immigranten aus Mittel- und Lateinamerika werden nach den Prognosen von Demographen im Jahr 2050 mit 22 Prozent die größte Minderheit in den USA stellen. Ihre mangelnde Begeisterung für Basketball und Football mag unter anderem damit zu tun haben, daß es in Mexiko oder El Salvador wenig Menschen gibt, die eine Körperlänge von 2,10 Meter oder die Statur eines Kleiderschranks aufweisen. Wie auch immer – ihre Liebe gehört dem mit den Füßen gespielten futbol. Und mit 22 Prozent Bevölkerungsanteil hat man in den USA allen Anspruch, auf dem freien Markt der Sport- und Unterhaltungsindustrie ernstgenommen zu werden. Das Fazit, zwei Wochen vor Beginn der WM, lautet also: Der Sozialismus ist in den USA weiterhin chancenlos. Der Fußball nicht.

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