: Die blutigen Tränen der Jungfrau – Von Ralf Sotscheck
In gottlosen Zeiten können nur Wunder helfen, um die abtrünnigen Schäfchen auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Vor acht Jahren tanzten in Irland einen Sommer lang die Marienstatuen, wenn man Hunderten von Augenzeugen glauben kann. Damals funktionierte es: Die IrInnen lehnten in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit das Recht auf Ehescheidung ab. Mittlerweile ist der Heiligen Jungfrau das Tanzen vergangen, lauert doch auf der Grünen Insel die Versuchung überall: An jeder Ecke hängen Kondomautomaten, Informationen über Abtreibung sind frei erhältlich, und selbst Ehescheidung soll demnächst legalisiert werden. So fiel das Zeichen von höherer Stelle diesmal fatalistischer aus. Marias Statue weint seit gut einem Monat täglich blutige Tränen.
Die Gipsmaria steht im Dörfchen Grange Con südlich von Dublin. Die pensionierte Postbeamtin Mary Murray hat sie einer Fatima- Pilgerin vor dreieinhalb Jahren abgekauft und ihr eine Kiste mit Glasdeckel und blauem Samt bauen lassen. Anfang Mai ging es dann los: Plötzlich wurde eine rotbraune Spur unter Marias linkem Auge sichtbar. Das Wunder sprach sich in Windeseile herum. Seitdem kommen täglich Hunderte von Gläubigen in das Haus, das inzwischen der Gipsfigur gehört: Murray hat es ihr überschrieben.
Im portugiesischen Fatima, wo die Statue hergestellt worden ist, löste die Nachricht von der heulenden Statue schallendes Gelächter aus – hinter vorgehaltener Hand, versteht sich. Man will es sich ja nicht mit anderen Blindgläubigen verderben, schließlich geht es ums Geschäft. Ein Sprecher der Marienstatuenmanufaktur „Farfatima“ sagte, man benutze eine Mischung aus Wachs, Harz und anderen Substanzen, um den Statuen die Glasaugen ins Gesicht zu kleben. Unter Hitzeeinwirkung könnte das Zeug schmelzen und einen rötlich schimmernden Rückstand unter dem Auge hinterlassen. Freilich sei die Geschichte vom Wunder eine genauso gute Erklärung, beeilte er sich hinzuzufügen.
Eine Untersuchung der Statue kommt ohnehin nicht infrage: Maria bleibe in der Kiste, entschied die Besitzerin. Mary Murray ist ein alter Hase, wenn es um Wunder geht: Sie habe den Herrn bereits fünfmal gesehen, erzählt sie. Das war damals in Ballinspittle, als die Marienstatuen tanzten. „Er stand einfach da, nur er und ich. Ich fragte den Herrn, was ich tun solle, doch er schwieg.“ Padre Pio, Papst Pius XII. und die Heilige Theresa sind ihr bei dieser Gelegenheit ebenfalls begegnet. „Ich habe aber nicht gesehen, wie sich die Statue bewegte“, sagt sie bedauernd. „Aber wenigstens betete sie mit uns den Rosenkranz. Ihre Lippen bewegten sich, und jedesmal beim Namen des Herrn senkte sie ihr Haupt.“ Ja, was verlangt die gute Frau denn noch von einer Gipsstatue? Einen Schuhplattler?
Die Alte ist inzwischen häufiger Gast bei Talk-Shows, wo sie die anderen Gäste stets dazu zwingt, gemeinsam das Mariengebet zu sprechen. Einmal wurde sie von einem Moderator überlistet: Er ließ während der Beterei Werbung einspielen. Aufgrund der Zuschauerproteste mußte er zur Strafe am Ende der Sendung alleine beten, bevor er die Nachrichten verlas. Es ist noch ein weiter Weg bis zur Säkularisierung Irlands.
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