Kommt jetzt Rot-Grün?

■ Nach dem Europawahl-Debakel: Hamburgs SPD vertagt ihre fällige Kursdebatte auf Oktober / Grüne halten sich zurück Von Florian Marten

Pünktlich zum sechsjährigen Stadtchef-Jubiläum Dr. Henning Voscheraus hat die SPD in Hamburg mit 34,5 Prozent der Europawahl-Stimmen ihr schlechtestes Ergebnis seit 1945 eingefahren. Voscherau, das Ohr immer am Puls der kleinen Leute, hatte das Übel noch in der Wahlnacht identifiziert: Eigentlich, schimpfte der Bürgermeister, hätte das Wahlvolk ja „die Eurokraten in Brüssel“ und nicht etwa die Hamburger Regierungspolitik strafen wollen.

Mit etwas anderem Zungenschlag widmete sich Grünen-Cheerleader Krista Sager dem Wahlkaffeesatz: „Wir dürfen uns jetzt nicht besoffen machen. Natürlich spielt die geringe Wahlbeteiligung eine Rolle, kann eine Europawahl nicht mit einer Bürgerschaftswahl gleichgesetzt werden. Das Wahlergebnis ist dennoch eine eindeutige Quittung enttäuschter WählerInnen für die Mißachtung ihres Willens bei der Bürgerschaftswahl im September 1993.“ SPD-Parteichef Jörg Kuhbier teilte noch am Wahlabend die grüne Analyse in gewohnt dezenter Weise: „Die Verschiebung zwischen SPD und Grünen hat auch Ursachen“, meinte Kuhbier, der sich ansonsten vom Wahlergebnis „erschreckt und enttäuscht“ zeigte.

Trotz heftiger öffentlicher Freude bei der CDU, das Wahltief der Bürgerschaftswahl (25,1%) überwunden zu haben: Mit einem Zuwachs von bloß 0,6 Prozent gegenüber 1989 erzielte die hiesige Kohltruppe ihr miesestes Altbundeslandergebnis. Und: Mit zusammen nicht einmal 38 Prozent erhielt das rechte bürgerliche Lager (CDU 32,1%, FDP 3,7%, Statt 1,8%) eine herbe Abfuhr. Noch drastischer die addierten Prozente für die rot-graue Regierungskoalition, die es auf gerade mal 36,3% brachte.

Dennoch fanden sich gestern weder bei Grünen noch bei Roten Stimmen, die klare Konsequenzen aus dem SPD-Debakel eingefordert hätten. Gleichwohl breitet sich in den SPD zunehmend Panik aus. Die gegenwärtig nur mühsam unter Kontrolle gehaltene Spannung zwischen rot-grünem Parteivorstand und rechter Senatsmehrheit, ein Riß, der auch mitten durch die SPD-Bürgerschaftsfraktion geht, hat durch das Wahlergebnis neue Sprengkraft erhalten. Zur offenen Revolte gegen Henning Voscherau, der Hamburgs SPD derzeit von einer Wahlniederlage zur anderen führt, wird es vorerst jedoch nicht kommen. Bis zur Bundestagswahl will die SPD zumindest nach außen den Anschein der Geschlossenheit wahren.

Sollte sich der Debakeltrend allerdings fortsetzen, sind Panikreaktionen führender Genossen nicht mehr auszuschließen: „Wenn die Fleischtöpfe in Gefahr geraten, dann geht das Hauen und Stechen los“, lästert ein führender Genosse. Schon die überzogene Reaktion der Parteirechten auf die Wahl Jörg Kuhbiers zum Parteichef – sie nahmen ihre Landesvorstandssitze nicht an – zeigt, wie brüchig der sozialdemokratische Burgfriede derzeit ist. Hinter den Kulissen formieren sich bereits die Lager: Während Finanzsenator Ortwin Runde, Fürst der linken SPD-Pfründe in Hamburg Nord, nach taz-Informationen mit Voscherau bereits in Erbfolgeverhandlungen getreten ist, falls Voscherau sich freiwillig zurückzieht, liebäugeln andere Spitzensozis der Mitte-Links-Mehrheit mit dem Gedanken, den neuen Parteichef Jörg Kuhbier im Herbst gegen Voscherau in Position zu bringen. Siehe auch Bericht auf Seite 22