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Schweinehund und Bartgeier

Da staunt der Ami: Das Eröffnungsspiel endet gegen alle Befürchtungen nicht torlos: BRD – Bolivien 1:0 / Was aber sind Fon, Hdr oder IA?  ■ Aus Chicago Matti Lieske

Die US-Amerikaner, eigentlich weltweit zu unweigerlichen Spielverderbern dieser Fußball-WM in ihren Landen verdammt, hatten sich gerade noch rechtzeitig aus der Affäre gezogen. Tief beeindruckt von der Kunde, daß sich zwei Milliarden Menschen in allen möglichen Ländern diesen fußlastigen Käse im TV anschauen, hatten sie in den letzten Tagen vor der Inauguration tatsächlich so etwas wie Interesse bekundet oder doch zumindest geheuchelt.

USA Today widmete den Kickern mehr Raum auf der Titelseite als dem fünften Spiel des NBA-Finales zwischen den Houston Rockets und den New York Knicks, und bei Straßenumfragen schauten die Leute nicht mehr drein, als hätte man sie gerade gefragt, wie viele Barthaare ein Bartgeier hat, sondern wußten, daß Maskottchen „Striker“ nicht an der Eröffnungsfeier teilnehmen durfte, weil ihn die Veranstalter selbst „zu blöd“ finden.

Spötter behaupten sogar, daß auch die Basketball-Cracks vom Soccer-Virus befallen seien und mit ihren punktearmen Finalpartien, die die Einschaltquoten rapide sinken ließen, die Sportfans schon mal auf den berüchtigt torarmen Fußball einstimmen wollten.

Ein Spielverderber war also entfleucht, doch schon trat der nächste auf den Plan: eine Hitzewelle. Wie sollte man da Fußball spielen, ohne dem Gegner oder den eigenen Mitspielern an die Gurgel zu gehen. Marco Etcheverry, der bolivianische „Diablo“, weiß ein Lied davon zu singen, und auch Jürgen Klinsmann war nicht gut zu sprechen auf den Wettergott. „Schwierig“ sei es gewesen, sagte er nach dem mühseligen und glücklichen 1:0 gegen die Bolivianer, ständig habe man „sowas wie einen inneren Schweinehund“ überwinden müssen.

Bundestrainer Berti Vogts drückte dies etwas fachgerechter aus. Nach guten 20 Anfangsminuten mit der von Riedle lamentabel vergebenen Kopfballchance sei das Mittelfeld „zu wenig aggressiv“ gewesen, habe den offensichtlich schweinehundfreien Matthias Sammer alleingelassen und die Bolivianer zu wenig unter Druck gesetzt.

In der Praxis äußerte sich das so, daß Bolivien plötzlich großartigen Fußball mit vielen kleinen Tricks darbot, der von den Zuschauern, auch den US-amerikanischen, begeistert bejubelt wurde, während die deutsche Abwehr mit dem rotzig-lässigen Berthold und dem partiell blind agierenden Effenberg mächtige Probleme bekam. Matthäus putzte eifrig aus, erntete aber von den US-amerikanischen Zuschauern Pfiffe für lange Pässe ins Leere, wie sie jedem Quarterback der Football-League sofort eine Rückfahrkarte zum College eingebracht hätten.

Chancen hatten aber auch die Bolivianer nicht, und so hätte eigentlich das eintreten müssen, was die Sportsfreunde aus den USA bei Fußballspielen so niedlich finden: daß sie gelegentlich 0:0 ausgehen. Doch nicht mal dieses war den Spöttern aus Yankeeland vergönnt. Eine ausgetrickste Abseitsfalle der Südamerikaner, Häßler stoppte den Ball für Klinsmann, der überwand seinen Schweinehund und schob den Ball in der 61. Minute ins leere Tor.

Dann kam der Teufel. Marco Etcheverry, Südamerikas Vize- Fußballer des Jahres, der wegen Verletzung in den letzten sieben Monaten nur ein Spiel bestritten hatte, erhob sich in der 79. Minute von der Bank, schüttelte sein wallendes Haupthaar, und ein Getöse ging durch die Reihen der bolivianischen Fans.

Nun würde alles gut werden, glaubten sie, doch „El Diablo“ teufelte nur drei Minuten. Zuerst stellte er seine Gefährlichkeit unter Beweis, als er sich blitzschnell Effenbergs Bewachung entzog und den Ball geschickt dem dribbelgewandten Erwin „Platini“ Sanchez auflegte, dessen Schuß zur Ecke gelenkt wurde. Dann trat er nach Matthäus und sah prompt die rote Karte. Dessen fußballerische Vertretung aber hatte nach dem tragischen Ereignis nicht nur alles Satanische, sondern auch jede Moral verloren, lethargisch fügte sie sich in die Niederlage.

Und nachdem das Schreckgespenst der Torlosigkeit fürs erste gebannt war, zerstreuten die Organisatoren gleich noch eine weitere Urangst der zahlenversessenen Einheimischen: die angebliche statistische Unerfaßbarkeit des Fußballs. Akribisch genau wurde das Match in Daten zerlegt.

Gezählt wurden unter anderem „Hdr“ (Kopfbälle), „IA“ (Schüsse von innerhalb des Strafraums), „OA“ (Schüsse von außerhalb des Strafraums), „Fon“ (Erlittene Fouls), „F“ (Erteilte Fouls), „Ast“ (Torvorlage), „YC“ (Gelbe Karten) und natürlich „RC“. Die aber war an diesem Tag ganz allein dem Teufel vorbehalten.

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