: Störche und Nestflüchter
Let's go Nest: Jede Menge Ostdeutsche verwandeln den Plattensee in das sechste neue Bundesland auf Ferienzeit. Mit dem Fahrrad unterwegs von Wien ans „ungarische Meer“ ■ Von Bernd Müllender
Etappe 1 – Gefährliches Wien
Wenn es stimmt, daß der Umgang mit Radfahrern ein Gradmesser für Toleranz und Rücksichtnahme eines Volkes ist, dann sind die Österreicher bislang auf einer sehr niedrigen Kulturstufe stehengeblieben. Jedenfalls in Wien. Wo Radwege kaum existieren (und wenn, in abenteuerlichen Kurven entlang des Rings verlaufen) und die Radler hemmungslos den schneidigen Autos und ihren Abgasen ausliefert sind. Ständig fährt die Angst mit, bald ein Ausstellungsobjekt im formidablen Kriminalmuseum (detailgetreue Dokumentation aus 400 Jahren Wiener Mordgeschehen) oder im hochseriösen Bestattungsmuseum (detailgetreue Dokumentation aus fast ebenso vielen Jahren Wiener Vergrabens) zu werden.
Etappe 2 – Geglückte Flucht
Die Österreichischen Bundesbahnen bieten Rettung vor einem frühzeitigen Ende als schöne Leich'. 30 Schilling (4,30 Mark) kostet die Tageskarte fürs Radl – und so fliehen mein Speichen-Kumpan und ich auf Schienen raus aus der Stadt Richtung Burgenland und Neusiedler See im Süden. Hier ist es flach wie sonst nirgends in diesem von den Alpen so gnadenlos durchfurchten Land. Die Folge: Hier radeln alle Österreicher und alle Österreich-Touristen, wenn sie nicht gerade per Auto in Wien Jagd auf Zweiräder machen. Fahrradverleiher haben einen größeren Fuhrpark als jedes durchschnittliche Fahrradgeschäft sonstwo.
Etappe 3 – Kluge Säbelschnäbler
Die Lange Lacke, eine Seenplatte aus etwa 80 verschieden kleinen Seichtgewässern gleich neben dem Neusiedler See, ist Weltnaturschutzgebiet. Hier übersommern, überwintern und brüten allerlei seltene Vögel: Löffler, Seeschwalben, Purpurreiher, wilde Graugänse und auch der Säbelschnäbler. „Abkürzungen vermeiden den Lebensraum“ mahnen kluge Schilder alle Hobby-Ornithologen zum Einhalten auf den Schotterwegen rings um die Lacken und bremsen vor zu intimer Betrachtungsweise. Die Vögel indes gehen ihrem Tagwerk, ebenso artgerecht wie gemein, immer als winzige Horizontgarnitur an den geschützten, abgelegenen Enden der Flachseen nach. Ohnehin sind auch Weltnaturschutzgebiete nur zweidimensionale Protektorate – oben schwirren krächern die Großvögel der Gattung Boeing zur nahen Landezone Wien-Schwechat.
Der Flecken Illmitz nebenan lockt zum „naturlauben“. Das Städtchen weiß unzählige world champions für diverserlei Rebsaftköstlichkeiten in seinen Mauern. Und: Hier gibt es, wahrlich erhebend anzusehen, das höchste Pro- Schornstein-Vorkommen an Störchen in Mitteleuropa. „Erst in den 50er Jahren wurde Meister Adebar durch Flurbereinigungen in deutschen Breiten teilweise von seinen angestammten Brutplätzen vertrieben“, erläutert ein Prospekt. „Seither residiert er auf rot-weiß- roten Schornsteinen.“
Etappe 4 – Sopron (Ödenburg) Ödenburg (Sopron)
Nicht nur in der Storchenfrage weiß sich Österreich verbal mit seinen Nachbarn anzulegen. Bis heute beleidigt, warum die Menschen des rund zehn Kilometer entfernten Sopron sich 1921 in einer Volksabstimmung für den Verbleib zu Ungarn entschieden, schreiben sie gern von „Ödenburg (Sopron)“. Besonders westlich orientierte Ungarn machen es seit dem Ostblock-Exitus andersherum. Die Grenze, ein asphaltierter Feldweg, ist nur für Fußgänger und Radler geöffnet. Gelangweilt blickt der Zöllner kurz in den Personalausweis, und ab geht's zum Ex-Feind.
Sopron ist malerisch, alt, idyllisch und an seinen historischen Bauten sogar vielfach saniert, zumindest angestrichen. Die Stadt ist, für ungarische Verhältnisse, sehr reich. Was am traditionellen wie devisenreichen Einkaufs- und Freßtourismus der Österreicher liegt. Denn die Preise sind zum Schämen niedrig – meist knapp die Hälfte wie in Deutschland, ein Drittel wie in den unverschämt teuren Touristenmetropolen Wien und Großraum Neusiedl: Kaffee – hieß dort immer ein großer, war immer ein kleiner und kostete ein Riesiges.
Sopron bietet Überraschendes: etwa den Chef des Fremdenverkehrsbüros, der mir und einem gleichzeitig an seinem Tresen um ein Einzelzimmer nachfragenden Gast wegen Überangebot an Soproner Ehebetten ausdauernd empfiehlt, doch gemeinsam unter die Decke zu schlüpfen; sei ja auch viel billiger. Sopron hat neben einem wunderbaren Marzipanmuseum voll tonnenweiser prachtvoller Konditorenkunst auch das „kleinste Geschäft Ungarns“, wie der Stadtführer löckt. Dieses stellt sich als wirklich winziges Zehnkubikmeter-Lädchen heraus, in dem indes nicht mehr der angekündigte Uhrmachermeister seinem filigranen Handwerk nachgeht, sondern das vollgestopft ist mit Zigarettenstangen (West), die kaum 20 Mark kosten das Stück. Ja, auch in Ungarn gehen die Uhren jetzt anders. Umsatz statt Unruh'.
Etappe 5 – Birdie beim Säbelschnäbler
Ein paar tausend Umdrehungen hinter Sopron, tief schon in der pannonischen Tiefebene, nichts als Gegend, Dörflein, Landwirtschaft, Abgeschiedenheit. Gäbe es eine eigene Zeitung in diesen Flecken, wäre die Durchfahrt eines fremden Radfahrers morgen Aufmacher im Lokalteil. Plötzlich ein Schild: Birdland links ab. Noch ein Vogelparadies? Postsozialistische Störche? Rotreiher? Paprikagänse? Nein: Bird soll den Golfbegriff Birdie andeuten. Die Ortschaft Bük lockt zum Golf & Country Club.
Eine unbestreitbar wunderschöne Anlage, nur umpassend will er erscheinen, der erste ungarische Platz, der laut Broschüre „in Europa seinesgleichen sucht“. Nicht daß nachkommunistische Bauernkollektive ihren Grund und Boden umgewidmet hätten. Eigentümer ist ein österreichisches Konsortium. Gebaut hat ein schwedisches Unternehmen. Die Preise haben westeuropäisches Niveau – eine Runde kostet einen ungarischen Wochenverdienst. Und auf Vögel wird auch Wert gelegt. Der Prospekt verweist auf „einen künstlich angelegten Teich, der als Feuchtbiotop für die gesamte Ökologie dieser Landschaft eine große Aufwertung bedeutet“. Ob der ungarische Säbelschnäbler hier seine Aufwartung macht, bleibt abzuwarten.
Etappe 6 – Insignien des Westens
Ungarische Autokennzeichen haben vorne immer drei Blockbuchstaben, gefolgt von drei Ziffern. Dadurch entwickeln sie, für deutsche Augen, einen sehr eigentümlichen Charme. Da fahren ARD und AOK, BKA und BDM, CSU und CIA munter hintereinander her. Andere, deutsche Kennzeichen folgen in Mehrheit: L, G, J, Z, DD, CB, HRO. Eine pausenlose Karawane – die gesamte Ex-DDR scheint hier zu fahren, alle unterwegs durch blühende Landschaften (Sonnenblumenfelder bis zum Horizont). Eine neue Flucht? Wohin? Gibt es bei uns eine neue Mauer?
Wehe, ein Ungar fährt ein Auto jenseits der Lada-Klasse. Augenblicklich droht Lebensgefahr, und man sehnt sich momentweise ins Radlerparadies Wien zurück. Also bloß weg von den Fernstraßen mit ihren Urlauberraststätten und all den Insignien des Westens wie bunte Zigarettenwerbung und leuchtende Bierreklame. Ab aufs Land – wo Ungarn wieder Ungarn ist. In Celldömölk (gleich neben Ostffyasszanyfa) sind fremde Sprachkenntnisse noch nicht verbreitet. In einer kleinen Kneipe wird schon das Bestellen eines Kaffees, eines großen Mineralwassers und eines Sandwichs zum gestenreichen Abenteuer. Und der Preis bleibt bis heute unverständlich: 60 Pfennig zusammen, ein reichliches Trinkgeld schon eingerechnet.
Etappe 7 – Nestflüchter am neu besiedelten See
Der Plattensee, das „ungarische Meer“, ungarisch: Balaton, größter See Mitteleuropas (knapp vor dem Boden-), kann schön sein. Wenn man die richtigen Ecken entdeckt, etwa die hügelig-hübsche Halbinsel Tihany. Die Faustregel nach der Umrundung lautet: Unbedingt Nord- statt Südseite, und dort je West je besser. Ostdeutschland muß leer sein in diesen Sommertagen. Denn hier sind sie alle hingefahren. Zehntausende, Hunderttausende. Das sechste neue Bundesland auf (Ferien-)Zeit. Viele sind schon immer an den Balaton gefahren, damals als DDR-Bürger, weil man nirgends der Konsumwelt jenseits von LPG-Waren und HO-Läden so nah war. Hatten Westkontakte geknüpft, Verwandte getroffen. Und jetzt, wo die Welt offensteht? Fahren sie immer noch hierhin – ist das Wiedervereinigung der einander so fremden Brüder und Schwestern stückweise, auf neutralem Gebiet?
Viele Gespräche lassen viele Motive ahnen: Vordergründig ködern die Preise. Einst kamen sie als Ärmste der Armen – jetzt als Blitzkarrieristen mit harter D-Mark und Westauto die sich mal richtig was leisten. Es ist Gewohnheit und auch Nostalgie. Viele erzählen, wie fremd ihnen nach wie vor die laute, unpersönliche, hektische Urlaubswelt des Westens ist. Und hier sind so viele Gleichgesinnte: andere Ost-Familien, Bekannte, Freunde. Hier finden sie Vertrautes und Geborgenheit; statt Let's go West heißt es: Let's go Nest.
Und zum Ende der Reise von Wien Richtung Süden nach Ostdeutschland sagt einer aus Leipzig: Früher sei er immer an die Ostsee gefahren, doch heute sei die viel zu teuer, weil Westfirmen sie fast aufgekauft hätten. „Das können wir uns nicht mehr leisten“, also sei er erstmals an den Plattensee. Quintessenz: Damals Flucht Richtung Westen, heute Flucht vom Westen. Am Plattensee lernt man in diesen Tagen viel über deutsch-deutsche Befindlichkeiten. Also doch ein Treffpunkt Ost-West. Wie früher. Nur mit veränderten Themen.
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