: „Hoppla! Da sind ja Nicklichkeiten ...“
■ Dudenmitarbeiter Matthias Wermke Über Blutgrätsche, Stinkefinger, die Reinheit der Sprache und die Schrecknisse der Hauptwortzusammensetzung
taz: Herr Doktor Wermke, Sie sind ein Meister der Wörter, ein Hüter der deutschen Sprache ...
Wermke: Na, na, das ist ein bißchen dicke! Wir dokumentieren die Sprache, und das ist zunächst einmal die Alltagssprache.
Dann dokumentieren Sie schlecht. Was die Fußball-WM angeht und den dort verwandten Sprachschatz, so hinterlassen Sie einen ziemlich ratlos.
Ich geb's ja zu: Das ist ein Manko. Aber beim Fußball ist es wie mit anderen Fachgebieten: Er hat eine ganz eigene Sprache entwickelt. Das schaffen wir nicht, da könnten ja alle anderen auch kommen. Wir würden sonst von einem Wörterbuch der Allgemeinsprache zu einem Wörterbuch verschiedener Fachsprachen verkommen. Aber was ist eigentlich Ihr Problem?
Zum Beispiel: Nicklichkeiten. Marcel Reif sagt immer: „Nicklichkeiten.“ Ich finde im Duden nur Nickel, Nickhaut ... Keine Nicklichkeiten da, weit und breit nicht!
Jaaaa, Nicklichkeiten ... Da würde ich sagen, das sind so kleine Boshaftigkeiten.
Das sagen Sie. Aber hier im Duden steht: Nickelbrille, Nicki, ... Ende, Schluß. Warum?
Ich erkläre Ihnen jetzt mal, wie wir arbeiten, ja? Wir legen eine große Sprachkartei an, haben mitlerweile gut vier Millionen Belege, also Textstellen. Da ist „Nicklichkeiten“ vielleicht auch dabei, aber möglicherweise nur mit einem Beleg. Dann hat es also noch nicht Eingang gefunden in die Allgemeinsprache, dann warten wir ab, bis es mehrere Belege gibt. Und noch etwas Wichtiges: Die dürfen nicht alle aus der taz stammen und ...
Halt, halt! Marcel Reif ist es, der immer mit den Nicklichkeiten daherkommt, nicht die taz. Und im Duden ...
... so beruhigen Sie sich doch! Es nutzt auch nichts, wenn das nur in der FAZ oder im Spiegel steht: Es muß gestreut sein.
Aha! Wenn also Marcel Reif immer nur im ZDF Nicklichkeiten sagt ...
Langsam, langsam. Wir werten ja eine Menge Bücher und Zeitschriften aus, da müßte sich das auch durchsetzen. Und es muß sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Dann sagen wir: Hoppla!! Offensichtlich sind da Nicklichkeiten in die Sprache eingedrungen, das müssen wir im Duden dokumentieren.
Soso! Es gibt also noch zuwenig kleine Bosheiten auf der We ...
Sie irren! Was nicht im Duden steht, kann trotzdem existieren. Das darf trotzdem gebraucht werden.
So wie die Standardsituation zum Beispiel, nach der in der Bundesliga 30 Prozent aller Tore fallen. Standardsituation ist immerhin drin im Duden.
Eine ganz problematische Sache ist das, Begriffe wie Standardsituation. Das ist eine Hauptwortzusammensetzung, das gibt es im Deutschen wie Sand am Meer, so viele, die kennt nur der Herr allein. Da werden Sie immer wieder auf Lücken stoßen.
Hier: Standardsituation: Freistoß, Eckstoß ...
... ja, ja, das ist sehr geläufig, das hat sich sogar aus dem Sportbereich hinausentwickelt.
Aber sonst sind Sie schon Sportmuffel. Die Nicklichkeiten ...
... Nein, das stimmt so nicht! Wir haben etwa das Wort „barren“ aufgenommen, seit es die Diskussion um das Pferdetraining und Schockemöhle gegeben hat. Das ist ganz aktuell drin bei uns.
Ich bitte Sie! Barren ist ja auch eine schwere Nicklichkeit ...
... oder „breaken“, vom Tennis. Oder die „Fanbetreuer“, 1990/91 sind die aufgekommen, die sind drin! Oder „La ola“ Oder „Matchwinner“.
Schreckliche Wörter. Wo bleibt denn da das sprachliche Reinheitsgebot? Tut Ihnen das nicht weh, wenn nur noch von Matchwinner und breaken und neuerdings soccer geredet wird. Sie als Hüter der Reinheit ...
Ganz falsch, das wollen wir nicht sein! Das ist ein Mißverständnis. Wir vertreten zwar Normen, wie die Rechtschreibnorm, andererseits sagen wir: Wörterbucharbeit ist, das aufzunehmen, was tatsächlich in der Sprache vorkommt. Die Sprecher machen die Sprache selber!
Also ich weiß nicht: Match of the day heißt es jetzt schon bei der WM.
Und da wird's dann dumm! Manche müssen halt zeigen, wie gebildet sie sind. Wenn jemand sagt, man brachte Steffi Graf in Wimbledon standing ovations – dümmlich ist so etwas! In der Werbung verstehen Sie ja heute auch kaum noch etwas ohne Grundkenntnisse der englischen Sprache.
Sprache wird ja zunehmend sportifiziert und ...
... das ist doch besser als militarisiert.
Wohl wahr, aber 16.000 Stunden jährlich im Fernsehen und breite Berichterstattung in Zeitungen hinterlasssen Spuren.
Sicher, der Sport ist ein Spendermoment der allgemeinen Sprache. Aber ich persönlich leide da nicht darunter.
Sie nicht. Aber viele Spieler leiden unter der Blutgrätsche. Auch da: der Duden schweigt. Er kennt Blutgefäß, Blutlache ... aber keine Blutgrätsche.
Schauen Sie mal, wann Ihr Duden herausgekommen ist. Kann schon sein, daß die Blutgrätsche in die nächste Ausgabe kommt, so alt ist der Begriff ja nicht.
Jetzt pfeifen die Schiedsrichter ja recht streng. Gelbe Karte auch bei kleinen Fouls. Vielleicht ist die Blutgrätsche in der Praxis weg, wenn Sie endlich im Duden erscheint.
Das kann schon sein: Dem Mauerspecht ging's ähnlich. Wer benutzt heute noch das Wort Mauerspecht.
Im Falle Effenberg helfen Sie auch nicht weiter: bei Stinkefinger. Stinkfaul, Stinkmarder, stinklangweilig, alles da, nur keine Stinkefinger.
Das würde mich auch wundern ...
... Stinkmorchel, Stinkwut ...
... ich guck mal eben im Universalwörterbuch nach, Moment mal. Es wird ja grade ein neues Wörterbuch gemacht, und der Buchstabe ...F ... ist noch nicht abgeschlossen. Da kann noch was Aktuelles rein ... Ha! Stinkefinger! Natürlich, Stinkefinger! Haben wir im deutschen Universalwörterbuch schon drin. Jaaa!
Und da steht?
Die Erklärung: „Abwertend für Finger. Nimm deine Stinkfinger da weg!“
Ich bitte Sie, das hat doch nichts mit Effenberg zu tun.
Das müssen wir möglicherweise ergänzen.
Wir bitten darum.
Versprechen kann ich Ihnen aber nichts. Ich gebe aber zu: Das ist natürlich sehr zurückhaltend formuliert und geht noch nicht auf das obszöne Zeichen ein.
Aber auch so: Ist ja ein tolles Buch, Ihr Universalwerk! Ist da womöglich sogar die Nicklichkeit ...?
Moment mal, ich bin schon am Blättern. Da, da ist es drin! Nicklichkeit! „Nickliche Haltung beziehungsweise nickliche Art. Kleine Nicklichkeiten im Team vergräzten den ehemaligen deutschen Militarymeister zusätzlich: ,So macht das alles keinen Spaß mehr.‘“ Ein Zitat aus der Rheinpfalz – vom 26.9.1988 schon.
Dann hat das gar nicht der Marcel Reif erfunden?
So sieht es aus. Interview: Herr Thömmes
Fragendesign: Arno Luik
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen