: Der Herr der 160 streunenden Katzen
Abziehende Russen lassen ihre Katzen und Hunde in den Kasernen / Wilhelm Schrader, Elektroinstallatuer a.D., pflegt unentgeltlich das herrchenlose Vieh innerhalb einer Militärzentrale ■ Aus Wünsdorf Thorsten Schmitz
Wunderbar, der Zug hat ein paar Minuten Verspätung. So läßt sich die Abschiedszeremonie noch ein bißchen in die Länge ziehen. Am Bahnhof in Wünsdorf stehen, wie jeden Abend um sieben, aufgekratzte Russen, Georgier und Ukrainer, trinken warmen Wodka und schwören immer wieder, ja nicht den Kontakt abzubrechen. Sie kennen sich aus der russischen Militärzentrale, 60 Kilometer südlich von Berlin. Bis zum 31. August werden die Soldaten die 590 Hektar große Wünsdorf-Kaserne verlassen. Für immer.
Die 1.598 Kilometer lange Fahrt mit der olivgrünen Rostraupe nach Moskau dauert drei Tage. Bei der Wüstenhitze eine Tortur für Mensch und Tier: Die Fenster im Zug lassen sich nicht öffnen.
Um 19.23 Uhr kriecht der Zug los. Viele Tränen, „Schreib mal!“, ein letzter Kuß. Und ein O-beiniger Dackel, der an den Fuß eines Müllcontainers geleint ist. Jemand muß ihn „vergessen“ haben. Er winselt, will dem Zug hinterher.
Um solche Tierchen kümmert sich Herr Schrader, Wilhelm Schrader. Um Hunde und Katzen, manchmal sogar um Ziegen und Kühe, die russische Generäle und einfache Soldaten hierlassen.
Fünf Monate hat Herr Schrader das Brandenburger Innenministerium mit Briefen und Petitionen bombardiert. Mit Erfolg. Vor sechs Wochen überließ ihm das Bundesvermögensamt, Eignerin der Kaserne Wünsdorf, für die kommenden zwei Jahre ein kleines Gelände innerhalb der verlassenen „verbotenen Stadt“, in der einst 50.000 Soldaten, Offiziere und Angehörige der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte lebten.
Ziemlich bald, wenn dieses Gelände umzäunt ist, werden auf Schraders Herrchenschaftsbereich zwischen flachen Baracken und Kiefernbäumen die Katzen rumschleichen und miauen, Ärzte sie entwurmen, kastrieren und impfen. Nach der Aufpäppel-Kur sollen die vielen Russen-Katzen und die paar -Hunde republikweit in Tierheime gebracht werden.
Und wenn alles gutgeht, finanziert das Arbeitsamt Zossen ab August vier ABM-Kräfte, die Wilhelm Schrader beim Einfangen und Pflegen beistehen können. Im Moment streunen noch 160 Katzen, durch die Geisterstadt.
Katzenanarchie in der gottverlassenen Militärzentrale, und Herr Schrader müht sich tapfer, sieben Tage in der Woche, das verwahrloste Vieh wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Wobei, das betont er, die Russen große Tierliebhaber seien. Das erkennt Herr Schrader auf einen Blick: „Die sind nicht verstört und zucken nicht, wenn sie eine Hand sehen.“
Der 65 Jahre junge Mann, der sich nach regelmäßig zwölf Stunden Dienst an der Katze jeden Abend „wie erschossen“ fühlt, war früher Elektroinstallateur und ist heute Rentner. Es ist – natürlich – die Liebe zu Katzen, die ihn zu diesem unbezahlten Fulltimejob verpflichtet. Allerdings eine zurückhaltende Liebe, er streichelt sie selten. „Irgendwo bin ich Handwerker“, erklärt er seinen „Tick mit den Katzen“: „Entweder macht man etwas richtig oder gar nicht.“ Ihn treibt „der Wille“. Worin der besteht? „Weiß ich selber nicht. Die verrecken doch sonst.“
Herrn Schrader „war ja klar“, daß viele Russen ihre Haustiere in Deutschland lassen würden. Er hegt deshalb noch lange keine Antipathie gegen „Kolja“ (DDR- Spitzname für Russen). Im Gegenteil. Erstens findet Herr Schrader es beschämend, wie still und heimlich „Kolja“ in seine Heimat entlassen wird. Und zweitens herrschen an Rußlands Grenzen rigide Tiereinfuhrbestimmungen. Die führen dazu, daß die arbeitslosen Soldaten oft ihre Katzen am belorussisch-russischen Schlagbaum in die Freiheit entlassen müssen. Weil, zum Beispiel, der Impfpaß fehlt.
Jeden Tag vollbringt Wilhelm Schrader 45 gute Taten. Jeden Tag.
Mit einer Selbstverständlichkeit, mit der andere in Büros ihre Hintern wundsitzen, ist Wilhelm Schrader der Herr der 160 streunenden Katzen. Für 4.500 Mark kauft er zig Paletten „Happy Cat“ in den Geschmacksrichtungen Fisch, Rind, Huhn und öffnet nun, zusammen mit seinem Freund Heinrich Henkel, 180 Dosen à 820 Gramm. Anschließend begibt er sich auf Fütter-Tour. Wie im Schlaf steuert er in einem völlig verstaubten Opel-Kombi mit offenem Kofferraum 45 Futterstellen innerhalb des gespensterhaften Kasernen- Labyrinths an. 45mal einsteigen, 45mal aussteigen, 45mal Dosen ausschütten, Wasser in Becher füllen. Sobald Schrader den Motor ausstellt, schießen und schleichen, kriechen und zögern gescheckte, gestreifte, schwarze und graue Katzen aus ehemaligen Knäckebrotspeichern und gesprengten Bunkeranlagen hervor. Oder geben den Platz an der Sonne unter der Lenin-Statue zugunsten der Völlerei auf. Umschnurren den Essenshaufen, tapsen mit der Pfote nur mal so zum Test in den Freßnapf. Und fressen schließlich. Jeden Tag vollbringt Herr Schrader 45 gute Taten. Jeden Tag.
Im Gegensatz zu manch anderen fundamentalistischen Haustierfanatikern, die mit ihrer Viehliebe alles erdrücken, pflegt Herr Schrader keine Kosesprache. Genauso wie Katzen die Distanz schätzen, schätzt auch er sie. Er sagt nie „put, put!“, sondern immer nur „Hallo Jungs, na Mädchen!“
Umsurrt von tausend friedfertigen Bienen, ißt Wilhelm Schrader am späten Nachmittag ein Brötchen mit Schinkenwurst. Dabei fällt ihm ein, wie Katzen sind: „Rund. Souverän. Und nicht antastbar.“ Manchmal aber ist Körperkontakt unvermeidlich.
Mit seiner grauen Strickjacke und dem Stoßseufzer „Die haben wir gerettet“ fängt Schrader ein Katzenjunges, dessen linkes Auge ganz verklebt ist. Es muß schleunigst zum Arzt. Eigentlich, murmelt er, müßte das Baby eingeschläfert werden, denn „der Arzt kostet bestimmt 200 Mark“.
Aber so denkt Herr Schrader ja nicht.
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