„Achtung, jetzt kommt eine Stufe“

Stadtbesichtigung ganz anders: Ein Reisebüro bietet Lustreisen durch Berlin – Entführung in der Großstadt, Champagner auf der Yacht, eine Pufftour / Oder „Blind durch Berlin“ – ein Selbstversuch  ■ Von Patricia Pantel

Eben noch lag der Savignyplatz in grellem Sonnenlicht, plötzlich nur noch Dunkelheit. Bettina lächelt noch einmal aufmunternd, bevor sie mir die Augenbinde aus blauem Samt über den Kopf stülpt und fest verknotet. „So, du mußt dich jetzt bei mir einhaken, und dann ist das Ganze gar kein Problem.“ Bettinas Stimme kommt irgendwo von rechts. Und los geht es. Schon nach den ersten Schritten ist die Orientierung irgendwohin verschwunden. Gewohnt zu sehen, sind plötzlich nur noch Geräusche und Gerüche in der Luft. „Berlin ist so reizüberflutet, da ist es gut, wenn man mal nicht die Augen, sondern die anderen Sinne beansprucht“, sagt Bettina. Die Wahrnehmung springt fast automatisch um. Noch etwas unsicher im Dunkel der Augenbinde, scheint das links vorbeifahrende Auto plötzlich viel lauter, der ratternde Preßlufthammer tausendmal furchteinflößender, und jeder Tritt in die Pedale eines vorübersausenden Fahrrads nimmt eine überdimensionale Lautstärke an.

Wo keine Bilder sind, werden welche gemacht. Im Kopf läuft ein imaginärer Film ab. Thema: die Straße und ihre Gefahren. Vor dem Dunkel der Augenbinde sieht man beständig knatternde Laster auf sich zukommen, nichtvorhandene Autos parken und glaubt sich immer zwei Meter vor der nächsten gefährlichen Baustelle. Das Getrappel der Füße und Absätze ringsherum ohne den Anblick der dazugehörenden Menschen läßt die Phantasie zügellos davonspringen. Wo sind wir? Auf dem Ku'damm, mitten auf der Straße oder schon ganz woanders? Bettina bahnt als „Blindenführerin“ einen sicheren Weg durch das Getümmel von Autos, Menschen, Straßen und Baustellen. „Vorsicht, jetzt kommt eine kleine Stufe.“ Aha, wahrscheinlich eine Straße. Aber welche? Unsicher hänge ich an Bettinas Arm, und der Film im Kopf spult vor- und rückwärts, kramt in allem, was ich als Sehende kenne. Sucht nach Anhaltspunkten, die den Geräuschen und Gerüchen auf der anderen Seite der Augenbinde Farbe und Formen geben. Blind durch Berlin.

Die Blindenführung ist eine der außergewöhnlichen Reisen, die seit kurzem in einem Charlottenburger Reisebüro angeboten werden. Angefangen hat alles in den Köpfen von StudentInnen der Hochschule der Künste im letzten Semester. Sie sollten sich für Läden rund um den Savignyplatz Design-Konzeptionen überlegen. „Von Apotheke, Fotoladen und Lampenstudio bis zum Café und Reisebüro war alles dabei“, erzählt Bettina Ruhland, die selbst auch im zweiten Semester Industrial Design an der HdK studiert. Ihr Kommilitone Boris Berger sollte sich was für das Reisebüro „Concept Reisen“ in der Knesebeckstraße überlegen. Und schon war die Idee geboren: Warum muß man immer in ferne Länder verreisen, in Berlin gibt es doch genug Interessantes. Zusammen mit Mitstudent Reto Wettach machte er sich an die Konzeption. Thema: „Lustreisen“.

Stadtrundfahrt, FernsehturmBesuch und Butterfahrt über die Spree standen dabei gar nicht erst zur Debatte, es sollte was Lustiges sein. Herausgekommen ist ein Katalog von „Lustreisen“, die alle an einem Nachmittag in Berlin zu machen sind. Reisebürofrau Christel Benchea von „Concept Reisen“ fand die Idee gut. Und seit dem 12. Juli gibt es die Berliner Lustreisen für 120 bis 140 Mark bei ihr zu buchen. „Informiert haben sich in der letzten Zeit schon viele“, sagt Christel Benchea. Verkauft hat sie allerdings noch nichts. „Die meisten erkundigen sich, um es dann zum Geburtstag oder zum Hochzeitstag zu verschenken.“ Aber nicht nur dann macht es Spaß: die Entführung in der Großstadt, Erholung im Salzwassertank, Champagner auf einer dekadent protzigen Yacht, die Pufftour durch Berlins Lusttempel, Lebensangst in der Tauchglocke sowie blind durch Berlin geführt zu werden.

„Achtung, jetzt kommt noch eine kleine Stufe.“ Wir haben vermutlich die Straße überquert. Im Kopf spielt die Großstadt verrückt. Ständig die Frage: Welches Bild gehört zu welchem Geräusch? Gerüche überschlagen sich. Pommes, Parfum und Passanten – alles riecht. Immer auf der Suche nach Orientierung, hat die Kombination Hochkonjunktur: Pommesgeruch bedeutet Burger King bedeutet Ku'damm/Ecke Meineckestraße. Vielleicht aber auch nicht, alles ist dunkel. Nur der Wechsel von Sonne zu Schatten ist auch hinter der Binde an einem helleren oder düsteren Dunkel zu erahnen.

„Jetzt wird's eng.“ Beruhigend immer Bettinas Stimme direkt neben mir, die Kommandos gibt. „Als die Idee feststand, daß wir diese Führung ,blind durch Berlin‘ machen wollen, habe ich einen Kursus beim Allgemeinen Berliner Blindenverein gemacht“, erzählt sie, während wir uns langsam Stufen runtertasten, „die haben mir gezeigt, wie ich richtig führen muß.“ Sie selbst ist auch ein paarmal blind durch Berlin gegangen: „Ich habe Riesenachtung vor Blinden bekommen. Man macht sich ja nie einen Kopf darüber, wie anstrengend es ist, blind durch die Stadt zu gehen.“

Hinter der Augenbinde wird es noch dunkler. Wind und U-Bahn- Geräusche schlagen uns entgegen. Der Versuch, eine Fahrkarte zu lösen, scheitert, denn welcher der gut 20 Knöpfe ist der für den Einzelfahrschein für Erwachsene? Bettina hilft.

Und wo der Hör- und Geruchssinn nicht mehr weiterhilft, wird der Tastsinn aktiviert. Nächste Station: ein Café im Irgendwo der Großstadt. Auf dem Tisch ein Teller mit Sahne und Kuchen. Aber wo? Tastend ist bald klar, wo die Sahne ist – jetzt an meinen Fingern. Irgendwie landet am Ende doch alles im Mund. Und es geht wieder in das Getümmel aus Geräuschen und Gerüchen.

Der Gang ist mit der Zeit schon lockerer und entspannter geworden, wie selbstverständlich suche ich tastend nach dem führenden Arm von Bettina, und auch die Angst vor der Dunkelheit hat nachgelassen. Aber nachdem ich mich drei Stunden blind an Bettinas Arm durch die Stadt habe schleifen lassen, bin ich doch froh, als sie fragt: „Wollen wir aufhören?“ Und vor den erst noch verstört blinzelnden Augen taucht wieder der Savignyplatz auf. Das Bild zum Geräusch und zum Geruch ist wieder da.