: Die ermattete Wissenschaft
Ein neuer Sammelband zur Unfähigkeit der Politikwissenschaft, auf die Zeitenwende zu reagieren ■ Von Erwin Single
Vor der Wirklichkeit schützen bekanntermaßen am besten geschlossene Gesellschaften und bündige Theorien, gleich, ob die Geschichte Sprünge macht oder stillzustehen scheint. Der Crash des real existierenden Sozialismus und die historischen Verwerfungen, die der Zusammenbruch der bipolaren Welt sowie der antagonistischen Ideologien zeitigte, ließ nicht nur politische Akteure und Intellektuelle, sondern auch weite Kreise der Gesellschaftswissenschaften in großer Ratlosigkeit zurück. Gerade die Politikwissenschaftler mußten sich vorhalten lassen, als professionelle Auguren des Zeitgeschehens die Epochenwende nicht viel besser vorausgesehen zu haben als die politischen Laienscharen. Aber analysieren ist bekanntlich immer einfacher als die richtigen Folgerungen zu ziehen.
Kaum hat der jahrzehntelange Tie-Break der Systeme ein jähes Ende gefunden, fängt das Rätselraten an. „Wo bitte geht es zur Realität?“ fragt etwa der Soziologe Sven Papke und schlägt zugleich eine Möglichkeit für das nicht gerade leichte Unterfangen vor: Eine „engagierte Wissenschaft“, die im Gegensatz zu der sich ausbreitenden „intellektuellen Selbstbefriedigung“ und „effektvollen Wolkenschieberei“ sich wieder jenen Gegenwartsaufgaben widmet, die Karl Mannheim einmal als „rationales Zu-Ende-denken-Können“ sozialer Problemkonstellationen bezeichnete.
„Wozu Politikwissenschaft?“ fragt der Sammelband im Titel, und in der Frage drückt sich nicht unberechtigt der Selbstzweifel einer Disziplin aus, der immer wieder das Existenzrecht abgesprochen wird. Will sie nicht ihren Ruf als klassische „Reformwissenschaft“ verlieren, muß sie einen Neuanfang wagen. Denkfaule Anleihen auf den Systemgegensatz genügen nicht mehr; das siegreiche und scheinbar alternativlose Modell „Demokratie“ muß jetzt aus sich selbst heraus begründet werden – sei es durch einen „Verfassungspatriotismus“ im Sinne Habermas', die Reaktivierung moralischer Ressourcen des politischen Gemeinwesens oder die diffuse Hoffnung auf eine „Zivilgesellschaft“.
Aber was wäre eine solche Neuorientierung ohne innere Korrektur? Wer nicht ohnehin bereits Frieden mit den neuen Verhältnissen geschlossen hat, behilft sich mit Neuinterpretationen der klassischen Demokratietheorie. So findet Claus Leggewie, die der Gegenwart zugewandten Sozialwissenschaften wirkten „seltsam inaktuell“. Seine Diagnose: Während alles in Bewegung geraten ist, macht sich in Sachen Politik ein Gefühl von Stagnation, ja des Rückschritts breit. Während sich die Ratlosigkeit der politischen Klasse, das Besitzstandsdenken des Publikums und die Verzagtheit der Politikwissenschaft gegenseitig verstärken, leiden die Urheber des Neuen im politischen Raum, die Reformbürokratien, sozialen Bewegungen und Intellektuellen derzeit unter einer Ermattung ihrer Erneuerungspotentiale.
Das Neue selbst, das es natürlich nach wie vor gibt, tritt als „äußeres, unerwartetes und einschneidendes Ereignis“ auf; politische Gemeinschaft wird als „Zeitgenossenschaft (katastrophaler) Ereignisse“ wie Tschernobyl und die geopolitischen Umbrüchen 1989 hergestellt. Gerade letztere, so Leggewie, haben eine Wirklichkeit erfahrbar gemacht, die bisher lediglich virtuellen Charakter besaß: die Weltgesellschaft. Auf der anderen Seite verlangen nachlassender normativer Konsens, Kohärenzverlust nationalstaatlicher Gebilde und die Erfahrung der Fragmentierung der Welt nach einer epochalen Veränderung des politischen wie staatlichen Handelns.
Leggewie plädiert, nicht zuletzt aus den bundesdeutschen Erfahrungen der Jahre 68 und 89 heraus, für eine stärkere Einbindung der biographisch-lebensweltlichen Dimension des Politischen: die Notwendigkeit einer „ständigen Neugründung“ der Republik, in der neue politische Generationen die Chance erhalten, den Grundkosens der alten Republik mitzutragen, aber auch umzudefinieren. Nur eine solche Neugründung könne die traditionellen Gegensätze von Arm und Reich, Ost und West und die gestiegene konfessionelle Vielfalt politisch integrieren und womöglich aufheben.
Auch wer wie Ulrich Beck seit Jahren die vielfältigen Formen und Ebenen des Politischen im Zuge „reflexiver Modernisierung“ aufdeckt und einer Bestandsaufnahme unterzieht, kommt schnell dahinter, daß aus den Trümmern der alten Weltordnung das verschwunden geglaubte Politische wieder auftaucht. Die alte Bundesrepublik existiert allenfalls noch als Phantomrepublik, es gibt auch keinen Westen, keine erste und keine Dritte Welt mehr. Mit dem Zusammenbruch des Ostens, so schreibt Beck, sind auch die westlichen Grundsätze der Politik zu einem Scherbenhaufen zerschellt, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, „daß in fast allen Politikfeldern die Koordinaten neu erfunden, die Weichen neu ein- und ausgerichtet werden können“.
Während Leggewie das für das politische Leben konstitutive Links-rechts-Schema für antiquiert hält, ist für Beck die Frage „What's left?“ bereits ausdiskutiert. Auf die Tagesordnung gehören seiner Meinung nach jetzt die Widersprüche des Konservativismus, der genauso pleite ist wie der Kommunismus. „Die Lehren der sozialen Marktwirtschaft und des Nationalstaats, die gesamte Vorstellungswelt des Neonationalismus sprechen von der entstandenen zivilisatorischen Weltlage wie Blinde von Farben“, so die Diagnose. Becks leidenschaftliche Anklage an den Konservativismus lautet: „Phantasielosigkeit, Dilettantismus, Fortschreiben, Festschreiben, Aufzehren und erst dann Korruption“. Die Gegenmoderne blockiert die Beantwortung jener Fragen, die die Moderne logischerweise stellt; die „Integrität einer hochindividualisierten Suchgesellschaft“, so Beck, soll durch die entschlossene Entgegenstemmung gegen das Fremde zu einer „im Inneren ungleichen, nach außen zur Festung ausgebauten Gesellschaft“ ersetzt werden. Für die Praxis der Sozial- und Politikwissenschaften scheint jetzt der Weg erstmals frei für eine, wie Beck sagt, „antisozialistische Gesellschaftskritik“, deren beste Chancen in einem reflektierten Skeptizismus, dem „durchgesetzten Zweifel“, liegen mögen.
Daß für ein neues politisches Programm der von der westlichen Linken als utopisches Nachfolgeprojekt der sozialen Revolution entdeckte Passepartout-Begriff der „zivilen Gesellschaft“ freilich nicht ausreicht, macht Helmut Dubiel klar. Der Begriff verdankt seine neuerliche Karriere vor allem seiner außerordentlichen Projektionsfähigkeit. Gewann er im Kontext des antitotalitären Kampfes der osteuropäischen Bürgerrechtler noch durchschlagende Prägnanz, stößt er als analytisches Konzept für das „Nachher“ auf deutliche Grenzen. Jetzt, da die Krise des westlichen Modells sein innerstes Zentrum, seine wirtschaftlichen und politischen Grundlagen erreicht hat und diese nicht mehr durch das Gegenlicht totalitärer Unfreiheit überblendet wird, bekommen jedoch die mit jener „zivilen Gesellschaft“ verbundenen Dinge wie die ungeteilte Gewährleistung von Bürger- und Menschenrechten „den Status einer regulativen Idee der liberalen Demokratie, an der sich ihre institutionelle Realität ständig messen lassen muß. So läßt sich vielleicht die innere Affinität der liberalen Demokratie zu undemokratischen Herrschaftsformen entlarven – sei es die undemokratische Binnenverfassung der Parteien, die asymmetrische Repräsentanz von Gruppeninteressen oder die korporativistische Abdichtung der öffentlichen Sphäre.
Bei all dem radikaldemokratischen Edelmut scheint aber keinesfalls ausgemacht, ob das Primat der Politik noch Gültigkeit besitzt oder nicht schon längst durch das der globalen Ökonomie oder gar durch das „Primat der funktionalen Differenzierung und Selbststeuerung“ ersetzt wurde, wie Niklas Luhmann behauptet. Wer sich allerdings nicht damit zufriedengeben will, das Faktische zu sanktionieren, der muß in einer Theorie einer kreativen Demokratie genügend reflexives Potential finden. Ob sich damit jedoch, wie erhofft, auch Raum schaffen läßt für neue, freiheitserweiternde Institutionen, das steht auf einem anderen Blatt. „Das höchste, was man erreichen kann“, schrieb einmal Hannah Arendt, „ist, zu wissen und auszuhalten, daß es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen und abzuwarten, was sich daraus ergibt.“ Erwin Single
„Wozu Politikwissenschaft? Über das Neue in der Politik“. Herausgegeben von Claus Leggewie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 39,80 DM
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