: Korngold-Effekte
Mit Berthold Goldschmidts „Beatrice Cenci“ begannen die diesjährigen Berliner Festspiele ■ Von Dieter David Scholz
Die 44. Berliner Festwochen – und wer weiß, wie viele angesichts bevorstehender Sparmaßnahmen im Berliner Kulturetat künftig überhaupt noch veranstaltet werden – wurden mit einem peinlichen Versprecher Eberhard Diepgens eröffnet. Der regierende Bürgermeister lobte die „Heimholung eines Vergessenen aus dem Konzil“. Zugleich rühmte er die „Aktualisierung der Beziehungen zu Rußland“ durch das Gastspiel des St. Petersburger Maly-Theaters am selben Abend. Das waren aber auch schon die klarsten Passagen seiner Rede. Diepgen betonte zwar nachdrücklich, daß die „kulturelle Leuchtkraft der Hauptstadt“ von der Berliner Festspiel GmbH ordentlich profitiere, doch über deren Zukunft mochte er sich gleichwohl nur vage und unverbindlich äußern.
„Leitmotive des 20. Jahrhunderts“, heißt das Motto der bis zum 29. September dauernden Festwochen, ein etwas weit gefaßter Oberbegriff, der nichts anderes meint, als daß zentrale wie periphere Repräsentanten des Jahrhunderts im Zentrum stehen. Eine ungewöhnliche Vielfalt von Konzerten ist den geradezu „klassischen“ wie prominenten Avantgarde-Komponisten und, im ersteren Falle, auch Dirigenten Pierre Boulez, Anton Webern und Heinz Holliger gewidmet.
Gemeint mit Diepgens „Heimholung“ war allerdings ein anderer: Berthold Goldschmidt, als Jude von den Nazis ins Exil (nicht ins „Konzil“) getrieben, ist der inoffizielle Star der diesjährigen Festwochen. Schon vor zwei Jahren begann sein Comeback mit der konzertanten Berliner Wiederentdeckung seiner Oper „Der gewaltige Hahnrei“; zum Auftakt der Festwochen wurde die deutsche Erstaufführung seiner 1949 komponierten Oper „Beatrice Cenci“ angesetzt – die zweite „Wiedergutmachtung“ an einem ignorierten Berliner Opernkomponisten.
Dabei hatte seine Karriere recht vielversprechend begonnen. Immerhin war der am 13. Januar 1903 in Hamburg geborene Berthold Goldschmidt 1925 von Erich Kleiber als Korrepetitor an die Berliner Staatsoper geholt worden, wo er an der legendären Uraufführung des „Wozzeck“ mitarbeitete. Daneben dirigierte der Schreker- Schüler Bühnenmusiken am Schillertheater und schrieb Musiken für Leopold Jürgen Fehling und Erich Engel. Carl Ebert holte ihn 1927 als Komponist und Dirigent nach Darmstadt – erste Kompositionen hatten schnell Aufsehen erregt. Als 1931 Carl Ebert Intendant der Städtischen Oper Berlin wurde, kehrte mit ihm auch Berthold Goldschmidt nach Berlin zurück.
Am 12. März 1933 wurden sowohl der Sozialdemokrat Carl Ebert als auch Berthold Goldschmidt entlassen. Die angekündigte Berliner Aufführung seiner in der Spielzeit 1933/34 in Mannheim erfolgreich uraufgeführten Oper „Der gewaltige Hahnrei“ fand auf Anordnung der Nazis nicht mehr statt. Da Goldschmidt damit jede Lebensgrundlage verlor, sah er sich 1935 gezwungen, Deutschland zu verlassen – er emigrierte nach London. Dort schlug er sich zunächst als Musiklehrer durch und kam schließlich im Deutschen Dienst der BBC unter, wo er Musikprogramme von Komponisten zusammenzustellen hatte, die in Deutschland als „entartet“ verboten waren. In Glyndebourne und Edinburgh konnte er gelegentlich dirigieren.
Erst Ende der vierziger Jahre begann Goldschmidt wieder zu komponieren. 1948 entdeckte er Percy B. Shelleys romantisches Versdrama „The Cenci“ – über eine der populärsten Verbrecherinnen der italienischen Renaissance – und komponierte nach dieser Vorlage schon im folgenden Jahr eine komplette Oper. Zeitbezug und Aktualität sind dem Sujet der Oper nicht gerade zuzusprechen – was sich übrigens auch von Goldschmidt selbst sagen läßt; interessiert und beschäftigt hat ihn wohl die unerschrockene Selbstbehauptung der Beatrice Cenci.
Erst im Widerstand wird die Cenci, vielporträtierte Tochter eines römischen Renaissance-Fürsten, zur Symbolfigur. Im Jahre 1598 ließ sie ihren brutalen Vater, der sie vergewaltigte, ermorden, um ihre Ehre wiederherzustellen und die Familie von einem unerträglichen Tyrannen zu befreien. Ein Jahr später wurde sie dafür, zusammen mit ihrer Stiefmutter, öffentlich hingerichtet. Seitdem wird sie in Italien als Märtyrerin und Freiheitssymbol verehrt.
Goldschmidt hat die Titelheldin seiner dreiaktigen Oper in lyrischsten Farben vollends als Unschuldige verklärt. Genau in diesem Sinne interpretierte Lother Zagrosek (der schon „Der gewaltige Hahnrei“ dirigierte und für die CD-Edition „Entartete Musik“ der Decca aufnahm) mit Feingefühl und Drive die Berliner und deutsche Erstaufführung. Auch Roberta Alexander, die vor zwei Jahren bereits die weibliche Hauptfigur des „Hahnrei“ sang, dürfte Goldschmidt gefallen haben: eine starke Frau und Heldin. Leider gab es kein adäquates männliches Pendant: Simon Estes führte vor allem lautstark seinen dunklen Heldenbariton vor – der väterliche Renaissance-Bösewicht Cenci als bloßer Stimmprotz.
Schade, denn die übrige Besetzung – vor allem die Mezzosopranistin Della Jones als Mutter Lucrezia und der kernige Baßbariton Peter Rose als Kardinal Camillo – ließ kaum zu wünschen übrig. Wie überhaupt die konzertante, live übertragene Produktion, die demnächst auch auf CD erscheinen wird, dank eines bestens disponierten „Deutschen Symphonie Orchesters Berlin“ (mit dem neuen Namen des alten RSO kann man sich nur schwer anfreunden) und eines höchst präzisen Rundfunkchors Berlin zu einem echten Ereignis des nicht eben mit Sternstunden gesegneten Berliner Opernlebens geriet.
Bleibt nur zu hoffen, daß die in zwei Wochen anstehende szenische Wiederbelebung von „Der gewaltige Hahnrei“ an der Komischen Oper ähnlich erfolgreich ausfallen wird.
Schon musikalisch wird „Der gewaltige Hahnrei“ sicher spröder daherkommen. Die Musik jedenfalls, derer sich Goldschmidt in „Beatrice Cenci“ bedient, ist in ihrer raffiniert gefälligen Mischung aus frühem Hindemith, Korngold-Effekten und Schreker-Farben, angereichert mit ein paar Messerspitzen Pfitzner-Strenge und Rhythmen à la Strawinsky ein Musterfall für äußerst sorglosen musikalischen Eklektizismus. Stilistisch wird kein Widerspruch geduldet zwischen den verschiedensten Stilen, handwerklich ist die Oper ohne jeden Tadel, nur eben zeitgemäß im Sinne der Entstehungszeit ist sie nicht gerade.
Was soll's? Die Radikalität und Unbekümmertheit gegenüber jedwedem musikalischen State of the Art, derer sich Goldschmidt bedient, um die Bühnenwirksamkeit und einschmeichelnde Gefühligkeit seiner Musik zu verwirklichen, siegt letztlich ja doch. Beim Publikum jedenfalls, das mit seiner Musik keinerlei Verständnisschwierigkeiten hatte – und auch in Zukunft haben dürfte. Was zählt mehr als Publikumserfolg auf der Opernbühne?
Im übrigen hat ja auch ein gewisser Kollege namens Richard Strauss, der nicht eben aufgrund vorbildlichen Verhaltens das Dritte Reich unbeschadet überstand, zur etwa gleichen Zeit, in der Goldschmidt seine anachronistische „Beatrice Cenci“-Musik komponierte, kostbares, rückwärtsgewandtes musikalisches Schaumgebäck produziert — unter anderem die berühmten „Vier letzten Lieder“.
Goldschmidts „Letztes Lied“, am Ende der „Beatrice Cenci“ von der Titelheldin als brillantes Lamento angestimmt, steht Strauss' verspielten Romantizismen in nichts nach.
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