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Hauptsache weniger Kinder?

Das indische Kerala ist ein bevölkerungspolitisches Musterländle. Doch Kleinfamilie ist nicht gleich Lebensqualität, und Kerala ist nicht übertragbar  ■ Von Shalini Randeria

Die Zauberformel für Kairo lautet empowerment für Frauen. Empowerment ist sozusagen die geschlechtsspezifische Variante der alten Forderung nach Entwicklung. Daß diese die beste Pille sei, erklärte bereits vor 20 Jahren der Leiter der indischen Delegation auf der Konferenz in Bukarest. Die Theorie des demographischen Übergangs, die auf europäischen Erfahrungen basiert, betrachtet die demographischen Veränderungen als Folge der sozioökonomischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts und nicht umgekehrt, wie es jetzt für den Süden propagiert wird. Die Senkung der Fertilität in Europa hatte weniger mit technologischen Möglichkeiten der Geburtenplanung zu tun als vielmehr mit veränderten Kinderwünschen im Zuge des sozioökonomischen Wandels. Interessanterweise vermeidet man es aber gerade in einer Zeit, in der alle möglichen Systeme, Theorien und Patentlösungen aus dem Norden exportiert werden, auch die demographischen Erfahrungen aus Europa zu übertragen, mit dem Argument, daß die Zeit für einen solchen langsamen Wandel nicht mehr reiche.

Die Erfahrungen zum Beispiel in Indien zeigen jedoch, daß ohne die notwendigen sozialpolitischen Rahmenbedingungen bevölkerungspolitische Maßnahmen zum Scheitern verurteilt sind – trotz demographischer Zielvorgaben, trotz hohen finanziellen Aufwands und einer riesigen Bürokratie, trotz internationaler Unterstützung und des politischen Willens der Bevölkerungsstrategen, die von der absoluten Notwendigkeit der Bevölkerungskontrolle für die armen Schichten überzeugt sind.

In Indien mangelt es weder an Geld noch an einer Infrastruktur zur Durchführung von Projekten zur Bevölkerungskontrolle. Die Ausgaben für Familienplanungsprogramme stiegen im Rahmen von Fünfjahresplänen von 1,4 Millionen Rupien in den frühen 50er Jahren auf 31 Milliarden Rupien Ende der 80er Jahre. Landesweit wurden 25 „Familienwohlfahrtsabteilungen“ auf Bundesstaatsebene, 416 Ämter auf Distriktebene, 70 Ausbildungseinrichtungen, 6.812 Zentren für Familienwohlfahrt sowie 130.782 kleine lokale Einrichtungen auf dem Lande aufgebaut. Die Erfolge waren überaus bescheiden. Noch 1990 betrug die Geburtenrate 29,5 pro 1.000 und lag somit deutlich über der Sollzahl von 25 pro 1.000, die bereits für 1975 anvisiert worden war. Auf dem internationalen Bevölkerungskongreß 1989 gab sogar der indische Premierminister zu, daß „die Wachstumsrate bei den Ausgaben für Familienplanung sich nicht in einer entsprechenden Senkung der Geburtenrate widerspiegelt“. Trotzdem hielt man an diesen Programmen fest.

Außer den Sollzahlen für die Geburtenrate legt die Zentralregierung auch fest, welche Verhütungsmethode von wie vielen Personen pro Jahr angewandt werden soll. Die Grundlage für diese Kalkulation bilden demographische Daten aus jedem Bundesstaat und nicht der tatsächliche Bedarf einzelner Personen an bestimmten Verhütungsmitteln. Die gängigste Geburtenkontrollmethode ist die Sterilisation, die in Indien 90 Prozent aller angewandten Methoden ausmacht. Wiederum 90 Prozent aller Sterilisationen werden an Frauen vorgenommen, obwohl die Operation bei Männern einfacher und ungefährlicher ist. So ist es nicht verwunderlich, daß in Indien (wie in den meisten Ländern des Südens) der Begriff „Familienplanung“ vielfach mit Sterilisation gleichgesetzt wird – gerade jene in Europa am seltensten angewandte Methode. Damit wird Familienplanung zu einer einmaligen Angelegenheit, ohne Aufklärung oder Einbettung in eine kontinuierliche Gesundheitsfürsorge.

In jüngster Zeit wurden außerdem vor allem Langzeitverhütungsmittel an armen Frauen getestet, die auf die staatlichen Programme angewiesen sind. Dabei handelt es sich um Kotrazeptiva mit einer Wirkungsdauer von zwei Monaten bis zu fünf Jahren (Norplant). Diese Mittel werden im Rahmen der Programme – meist ohne Wissen oder Zustimmung der Frauen – erprobt und haben oft starke Nebenwirkungen, insbesondere bei mangelernährten Frauen. Indische Frauengruppen haben gegen diese Versuche die Öffentlichkeit mobilisiert und sind sogar vor Gericht gegangen.

Oft wird behauptet, daß die indischen Programme erfolgreich gewesen seien – zumindest wenn man die CPR (couple protection rate) betrachtet, das heißt den Prozentsatz der Paare im gebärfähigen Alter, die verhüten. Der Prozentsatz dieser Paare stieg nämlich kontinuierlich an: von 14 Prozent im Jahr 1971 auf 44 Prozent im Jahr 1991. Nichtsdestotrotz ist die Geburtenrate keineswegs dem Anstieg der CPR entsprechend gefallen, sondern in einigen Staaten sogar gestiegen.

Am Beispiel des Bundesstaates Kerala läßt sich zeigen, daß eine Senkung der Geburtenrate von vielen verschiedenen Faktoren abhängt und nicht unbedingt ein Resultat von Familienplanungsprogrammen ist. Obwohl die CPR Keralas im indischen Mittelfeld liegt, ist die Geburtenrate des Staates an der Südwestküste Indiens extrem niedrig. Mit 18,1 Prozent lag sie 1991 weit unter dem indischen Durchschnitt von 29,5 Prozent. Damit ist sie zur Zeit sogar niedriger als die in Thailand, Irland oder China. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Studien, die den Ursachen dieses „Wunders von Kerala“ auf die Spur zu kommen suchen. Als einer von vielen Gründen gilt der Anstieg des durchschnittlichen Heiratsalters der Frauen von 17 Jahren im Jahr 1955 auf 23 Jahre (1990). Gleichzeitig geht der Trend zur späten Heirat mit einem höheren Ausbildungsniveau einher. Ein weiterer Schlüsselfaktor ist die Säuglingssterblichkeitsrate: Die Geburtenrate ist dort hoch, wo Eltern nicht sicher sein können, ob ihre Kinder überleben werden. Eine gute prä- und postnatale Gesundheitsvorsorge senkt die Säuglingssterblichkeitsrate und damit mittelfristig auch die Geburtenrate. Gerade in diesem Punkt könnte der Gegensatz zwischen Kerala und dem übrigen Indien nicht größer sein.

Während 1990 in Gesamtindien 89 von 1.000 Säuglingen nicht überlebten, waren es in Kerala nur 17 Kinder. Beim Rückgang der Säuglingssterblichkeit spielen das allgemein höhere Bildungsniveau und der Rückgang des Analphabetentums eine wichtige Rolle. Gut ausgebildete Mütter haben ein höheres Gesundheitsbewußtsein und können schließlich auch die zur Verfügung stehenden Dienstleistungen sinnvoller nutzen. In Gesamt-Indien lag 1988 die Alphabetisierungsrate von Frauen bei 39 Prozent. In Kerala dagegen betrug sie 87 Prozent.

Der relativ hohe Bildungsstand in Kerala ist einer der Gründe für das hochentwickelte politische Bewußtsein der Bevölkerung. Die Menschen sind in der Lage, sich politisch zu organisieren, um ihre Rechte zu fordern und sie auch durchzusetzen. Wegen des Drucks von unten werden deshalb in Kerala Regierungsprogramme, die ansonsten in Indien oft nur auf dem Papier stehen, tatsächlich zugunsten der Armen umgesetzt. Derzeit werden 60 Prozent des Landeshaushalts in die Bereiche Ausbildung und Gesundheit investiert. Bereits in den 60er Jahren führte die kommunistische Landesregierung weitreichende Agrarreformen durch, die mehr ökonomische Sicherheit für über drei Millionen Pächter brachte.

Traditionell ist der Status der Frau in Kerala im Vergleich zu ganz Indiensehr hoch. Zudem leben viele Männer aus Kerala die meiste Zeit des Jahres als Arbeitsmigranten in den Golfstaaten. Das hat zur Folge, daß nicht nur mehr Geld für Ausbildung und Gesundheitsvorsorge vorhanden ist, sondern auch daß in der Abwesenheit der Männer Frauen für alle Entscheidungen verantwortlich sind. In Diskussionen über das „Wunder von Kerela“ wird der finanzielle Beitrag der Migranten zur gesamten Entwicklung des Bundesstaates kaum erwähnt, obgleich die Hälfte der indischen Migranten im Nahen Osten aus dieser Region stammen.

Solche regionalen Besonderheiten oder historische Bedingungen, wie etwa die matrilineare Tradition Keralas, sind aber unbedingt zu berücksichtigen. Faktoren wie der Status der Frau oder ihr Bildungsniveau, die bei der Fertilitätssenkung eine Rolle spielen, können nicht losgelöst im Sinne eines mechanistischen Input-output- Modells betrachtet werden, sondern sie müssen in ihrem komplexen historischen Zusammenhang mit anderen soziopolitischen Faktoren gesehen werden. Die Erfahrung in Kerala ist eben kein Erfolgsrezept nach dem Motto „Man nehme eine Reihe von fertilitätshemmenden Zutaten, mische sie in einem bestimmten Verhältnis, warte ein paar Jahre und genieße dann den ersehnten Rückgang der Geburtenrate“.

Dies zeigt sich auch am Beispiel des Bundesstaates Tamil Nadu im Süden Indiens. Tamil Nadu hat trotz einer Alphabetisierungsquote der Frauen von nur 45 Prozent und einer sehr hohen Säuglingssterblichkeit (67 pro 1.000) die zweitniedrigste Geburtenrate Indiens. Die Bevölkerungswachstumsrate Tamil Nadus (14,9 Prozent) unterscheidet sich für den Zeitraum von 1981 bis 1991 kaum von der Keralas (14 Prozent), ohne daß die Senkung der Fruchtbarkeit in Tamil Nadu mit einer Verbesserung des Status der Frau, der Gesundheitsversorgung, einem höheren Pro-Kopf-Einkommen oder gerechterer Ressourcenverteilung einhergehen würde.

Eine niedrige Geburtenrate stellt keinen Eigenwert dar, sondern kann lediglich als ein Mittel zur Verbesserung der Lebensqualität in der Entwicklungspolitik Berechtigung finden. Daß auch hier kein einfacher monokausaler Zusammenhang besteht, zeigt erneut das Beispiel Kerala. Trotz der niedrigen Geburtenrate ist die Arbeitslosenrate Keralas eine der höchsten Indiens, leben 27 Prozent seiner Bewohner unter der Armutsgrenze, beträgt das Pro-Kopf-Einkommen nur 71 Prozent des indischen Durchschnitts.

Der Anteil der über 60jährigen an der Bevölkerung Keralas steigt kontinuierlich. Die daraus folgenden sozialen und medizinischen Probleme sind angesichts nicht vorhandener Alters- und Krankenversicherung sowie des relativ niedrigen Pro-Kopf-Einkommens nicht zu unterschätzen. Die alten Sicherheitsnetze von Familie und Verwandtschaft werden immer schwächer, ohne daß an ihre Stelle der Sozialstaat treten kann. Zwar ist die Lebenserwartung die höchste in Indien, aber die Krankheitsrate ist weder stark gefallen, noch hat sich das Krankheitsprofil, mit Infektionskrankheiten an erster Stelle, signifikant verändert. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Nahrungsmitteln in Kerala ist einer der niedrigsten in ganz Indien und bleibt deutlich unterhalb der von der FAO (Food Agricultural Organisation) empfohlenen Werte. Dank der modernen Medizin ist es heute zwar möglich, die Kindersterblichkeit zu senken, allerdings ohne gleichzeitig Hunger und Armut zu beseitigen.

Niedrige Säuglingssterblichkeit, gute Basisgesundheitsfürsorge, ein hohes Bildungsniveau insbesondere der Frauen, ein hoher gesellschaftlicher Status der Frau, ökonomische Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und politische Partizipation können in ihrer komplexen Interaktion zu einer niedrigen Geburtenrate beitragen. Es wäre aber falsch, sie als Mittel zum Zweck anzusehen. Jeder dieser Faktoren stellt für sich genommen ein wünschenswertes Ziel dar, dessen Realisierung der Staat ohnehin anstreben müßte. Empowerment führt dazu, daß Frauen eigene Prioritäten setzen. Welches diese letztlich sind, kann jedoch nicht von vornherein und schon gar nicht von anderen bestimmt werden.

Die Ethnologin Shalini Randeria ist Hochschulassistentin des Instituts für Sozialwissenschaft der FU Berlin und Vorsitzende der Aktionsgemeinschaft solidarische Welt.

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